Donnerstag, 16. September 2010

21 Tage

Abschied, Anfang, Alltag.


Das waren die ersten A-Wörter, die mir in den Sinn kamen, als ich vor inzwischen drei Wochen wieder das Licht der Welt erblickte.
Das „Licht der Welt“ ist schon vollkommen richtig, denn so wirklich in der Welt war ich in Pröbsting nicht. Man läuft anders durch die Gegend, man redet, denkt, träumt und argumentiert anders, wenn man den Blick überwiegend nach innen richtet.
Was fühlst du? Ist die Frage, die am häufigsten gestellt wurde, und auf meine Antwort hin kam dann oft die Gegenäußerung: „Scheiße“ ist kein Gefühl.
Auch „schlecht drauf“ ist kein Gefühl.
Aber Glück, Angst, Einsamkeit, Nähe, Kälte, Gut-Aufgehoben-sein, das sind alles Gefühle. Es ist beklemmend, wenn man von seiner Therapeutin eine „Liste möglicher Gefühle“ bekommt, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, aber so viel Emotionen auflistet, die man schon lang nicht mehr hatte.
Ich bin immer noch nicht richtig wieder zu Hause.
Meine Menschen aus dem Krankenhaus fehlen mir, die, die ohne zu zögern, ohne zu fragen und vor allem ohne Urteil einem weinenden Mitmenschen die Hand auf die Schulter legen und die Papiertaschentücher reichen. Die nicht wegsehen, wenn es jemandem schlecht geht, die weder sagen „Lass dich nicht so hängen“ noch „So langsam müsstest du aber mal wieder lachen können“.
Das Alleinsein nach so langer Zeit unter Menschen ist hart, und ich habe keinen Schimmer, wie ich das besser machen kann- jeder Besuch bei den Leuten, die in meiner Nähe wohnen, bedeutet wieder Abschied, wenn ich fahre. Jedes Telefonat hat ein Ende, unser Alltag hat uns wieder. Niemand wurde gesund entlassen, meist nur mit einer nicht mehr schweren, sondern einer nur noch mittelgradigen Depression. Mit Nortriptylin, Fluoxetan, Citalopram, Amitriptylin, Benzodiazepinen im Gepäck, und einer Sortierungsschachtel für die Pillen, wie sie sonst nur Omas haben.
Die ersten meiner Menschen denken darüber nach, wieder zurück zu gehen, denn sie werden mit ihrem Leben nur schwer fertig. Viele von ihnen sind einsamer, als man sich das vorstellen möchte, auch und gerade wenn andere Leute um sie herum sind. Viele müssen immer noch die Krankheit verbergen, um ihre Arbeit nicht zu verlieren und nicht im Zentrum des Klatsches und Tratsches zu sein. Das kostet zusätzlich Kraft, die kaum vorhanden ist, und die man so nötig für andere Dinge braucht.
Ich will ein paar Wahrheiten nicht vergessen:
-Depressionen sind real, sie verzerren die eigene Sicht der Dinge- das Leben fühlt sich scheiße an, auch wenn die Umwelt meint, das sei es gar nicht.
-Es gibt das, was meine Therapeutin eine depressive Gedankenkaskade nennt. Danach sollte man in sich Ausschau halten, um sie gleich im Keim zu ersticken, denn sie hat nichts, aber auch gar nichts mit der Realität zu tun.
-Vor einer Depression kann man nicht davon laufen, aber wenn man in Bewegung bleibt (tatsächlich in Bewegung), dann kann sie nicht so schnell andocken.
-Ebenso haben Depressionen wenig Platz in einem gut strukturierten Alltag. Strukturen sind der Leuchtturm, der noch funktioniert, wenn alle anderen Lichter verloschen sind.
Wichtig ist nur, dass alle Teile von uns in dieser Struktur zu ihrem Recht kommen. Sonst sind sie dazu verurteilt, ein Gefängnis zu sein und keine Stütze.



Der Herbst ist da.


Lily

10 Kommentare:

S. hat gesagt…

Liebe Lily,

das ist gar nicht so einfach: hinsehen (und mitbekommen) und nicht in diese stereotypen Sprüche verfallen.

Ich würde Dir gern auch ab und an ein Taschentuch reichen können.

So kann ich nur: lesen. Und hoffen, für Dich.

Birgit hat gesagt…

"Meine Menschen aus dem Krankenhaus fehlen mir, die, die ohne zu zögern, ohne zu fragen und vor allem ohne Urteil einem weinenden Mitmenschen die Hand auf die Schulter legen und die Papiertaschentücher reichen. Die nicht wegsehen, wenn es jemandem schlecht geht, die weder sagen „Lass dich nicht so hängen“ noch „So langsam müsstest du aber mal wieder lachen können“."

ja!!! Genau so habe ich es auch empfunden und es war eine ganz neue Art des "Verstandenwerdens"..alt, jung, erfolgreich, erfolglos, Anwalt oder Obdachloser..egal, man durfte sein...Danke für das Erinnern.

LG
Birgit

Mary Malloy hat gesagt…

Es drückt ganz schön auf mein Herzchen, das zu lesen. Aber ich freue mich mit dir über die vielen Erkenntnisse und drücke dir alle beiden und alle imaginären Daumen. Fühl dich gedrückt (von den Daumen und mir).

So viel Drücken.

Lily hat gesagt…

hab hier einen Kommentar gelöscht, der mir etwas wirr und weit her geholt erschien, und der noch dazu mit dem Thema nix zu tun hatte.

Lily hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Schneeflocke hat gesagt…

Hallo Lily,

ich finde es großartig, wie du uns von deinen Erfahrungen erzählst und teilhaben lässt. Gerade auch, weil jeder Mensch, der eben nicht unter Depressionen leidet, sich vermutlich wenig vorstellen kann, wie es sich anfühlt. Ich wünsche dir einen guten weiteren Weg und viel Kraft dafür.

Viele liebe Grüße, Birgit

Georg hat gesagt…

Ja, Der Herbst kommt. Ich bemerke es. Ich fange wieder an mich abzuschotten und niemanden sehen zu wollen. Ich will ja nicht aber es ist so. Scheiße. Ich werde mal wieder Gespräche führen müssen.
Danke für die Zeilen. Sie haben mich wieder aufmerksam gemacht. Es ist Zeit zu handeln sonst klappt bald nichts mehr.

Ich hab Dich ganz doll lieb...

Tina hat gesagt…

Aber es gibt auch in deiner Stadt viele Menschen, denen es so geht und die sich genauso fühlen wie du. Menschen, wie die im KH. Man muß halt die richtigen finden.. und das ist eine Frage der Kommunikation. Es ist immer ein Risiko, was von sich zu zeigen, was es dem anderen dann erleichtert, zu sagen, so geht es mir auch und mal ganz andere Freunde zu treffen.

Als ich im KH war, war das in HH, das war gut, so konnten wir uns danach weiter treffen und viele sind noch heute meine Freunde. Aber dieses reiß dich mal zusammen und so kenne ich auch. Ich denke es entspringt Sorge und Hilflosigkeit... es ist eben am einfachsten, mit Menschen, die das kennen, wo man sich nicht verstellen muß.

LG Tina

Paula hat gesagt…

Und was ist mit dem realen Leben, das was einen vielleicht krank gemacht hat, die Arbeit die einen ankotzt, die Menschen, die einen nicht lieben können, und die Menschen, die man mag, aber die zu weit weg leben...?

Wenn ich 20 Jahre jünger wäre, würde ich Dir empfehlen "gründe eine Wohngemeinschaft" und denke dabei an die vielen langen Gespräche in der Küche, die einfach nur gut getan haben, damals.

Ein mongolischer Schamane zu Besuch in HH, der zuhause in einem großen Clan lebt, sagte uns vor einem Jahr "ihr wohnt in einem wunderschönen Land, es gibt hier viele Bäume, das Klima ist angenehm, ihr habt genug zu essen. Aber ganz schlimm an Eurer Kultur hier finde ich die Vereinzelung in den Wohnungen, kein Kontakt zu den Nachbarn, keine Berührung, die fehlende Nähe zu anderen Menschen. Das ist ganz furchtbar, so herzlos, das müsstet ihr unbedingt ändern." Und jeder konnte sich ganz nah zu ihm hin setzen und er legte uns seinen Arm um die Schulter.

Jaja, ich weiß, dass ich gut reden habe, mein Liebster schläft nebenan. Wirklich mitreden kann ich daher eigentlich nicht.

Ich fühle mit Dir.
P.

Anonym hat gesagt…

Die Gefühls-Liste habe ich vor zwei Wochen von meiner Therapeutin bekommen. Auch wenn ich immer der Meinung war, dass ich meine Gefühle gut ausdrücken kann, so habe ich gemerkt, dass ich sie oft falsch benenne... Was aussieht wie Wut ist im Grunde nur Angst oder Enttäuschung...

Nach meinem 1. Klinikaufenthalt haben mir die Menschen auch wahnsinnig gefehlt. Nach dem 2. war ich froh diese Leute nicht mehr sehen zu müssen - sie waren grausam.
Mittlerweile ist von dem 1. Aufenthalt (Jauar - April 2008) nur noch eine einzige Person wirklich übrig. Beim Rest zeigte sich dann irgendwann, dass "krank sein" als einzige Verbindung doch nicht ausreicht.


"Strukturen sind der Leuchtturm, der noch funktioniert, wenn alle anderen Lichter verloschen sind."

Danke für diesen wunderbaren Satz.