Montag, 29. August 2016

Der Weg des Vergessens

So beschreibt meine Mutter die letzten Jahre des Lebens mit meinem Vater.
Der Anfang waren Momente voller Angst und Schrecken, weil der Mann, der sich überall zurecht fand, plötzlich keine Ahnung mehr hatte, wo er war. Das hat ihn alarmiert und zu den Ärzten getrieben, zu denen er ein kindliches Vertrauen hatte.
Dann kamen Halluzinationen, nach einer schweren Herz-OP, und das sei völlig normal, denn die Psyche müsse erst fertig werden damit, dass die Herzlungenmaschine das Herz ersetze.
Von kurzen Durchblutungsstörungen war die Rede. Alter. Verkalkte Carotis. Dagegennehmensiebittedreimaltäglich.
Der Alltag wurde schwierig. Die Episoden häufiger. Manchmal machte ihn das wütend, oft ängstlich und als Reaktion wieder zornig und ungehalten. Andererseits wurde er weicher, hilfloser. Weniger Macher.
Der erste Verdacht auf eine Hirnabbaustörung tauchte am Horizont auf, das böse Wort Alzheimer fiel. Die ersten Termine in der Memory-Klinik, die Termine in der Demenzsprechstunde. Medikamente halfen. Vorübergehend. Meine Mutter hat noch am meisten mitbekommen, was alles nicht mehr ging, und hat unendlich viel aufgefangen.
Einige schwere Erkrankungen hat er gemeistert, schon mit Alzheimer. Prostatakrebs, Herz-OPs. Rehaaufenthalte, und die Menge an bunten Pillen wurde mehr. Chemotherapeutika dabei, so giftig, dass sie nur mit Handschuhen dosiert werden durften.
Blutdrucksenker, Lipidsenker, zwei, drei Präparate gegen die Nebenwirkungen.
Dann kamen die wirklichen, spürbaren körperlichen Beschwerden. Der Gehstock, der Rollator, der Rollstuhl, die Schutzhose gegen Inkontinenz. Die Höllennächte, wenn er meine Mutter nicht erkannte, obwohl sie bei ihm und neben ihm war, und er panisch durchs Haus wollte um sie zu suchen, aber nicht laufen konnte.
Meine Mutter, einszweiundsechzig, neben ihm, einsneunzig, im Schneckentempo.

Neue Sätze. Ich kann das nicht mehr. Ich würde dir so gern helfen, aber ich kann das doch nicht mehr.
Der Mann, der immer und jedem geholfen hat, litt darunter, dass das nicht mehr ging, dass er uns, seine Kinder brauchte, damit sie ihm Arme und Beine ersetzten, die ihm ins Auto halfen, seine Wohnung renovierten und ihm sagten, Papa, setz dich hin, ich mach das schon.
Mir kaum erträglich die Dankesworte. Die wollte ich nicht. Ich wollte die Verantwortung nicht, ich wollte cool sein, distanziert wie immer, kompetent, und ohne die Emotionen, für die es nie Worte gab. Uns verband kaum ein Thema, und nie ein ausgesprochenes Wort der Zuneigung.
Aber irgendwas hat uns verbunden.
Nach der Kurzzeitpflege kam die Tagespflege, dann die häusliche Pflege, dann das Heim. Und immer die Angst vor dem Alleinsein, vor dem Verlassenwerden, eine Erinnerung an Erlebtes.
Und dann kam die Lungenentzündung zurück, die ja laut Krankenhaus so ausgeheilt war, dass man ihn dort entlassen konnte.
Freitags haben wir ihn ins Heim gebracht. Am Samstag der folgenden Woche musste er wieder ins Krankenhaus. Wir waren alle da, haben seine Hände gehalten, die ganze große Familie, für die er immer gesorgt hat, solange er es konnte.
Wir haben gesungen und gebetet, geweint und gelacht.
Und dann ist er gestorben.
Einfach so.

8 Kommentare:

SassenachvonWaldweiler hat gesagt…

Oh Lily
*inArmnehm*
*festhalt*
*schulterzumheulenanbiete*
*festhalt*
*temporeich*
*festhalt*
*überKopfstreichel*
*festhalt*
*mitDirTränenverteil*
*festhalt*

Lily hat gesagt…

Danke.

DerSilberneLöffel hat gesagt…

So real erzählt, dass es mich wieder aufwühlt. Tränen.

Fühl´ Dich gedrückt und leider nur zu gut verstanden.

Frau Vau hat gesagt…

Ach Lily. Das tut mir so leid. Ich drücke dich.

Alessa hat gesagt…

... bin in Gedanken bei dir - tut mir sehr leid.

Paula hat gesagt…

So stelle ich mir Sterben in Würde vor. Mit der ganzen Familie, die sich kümmert, alle bisherigen Streitereien und Konflikte treten in den Hintergrund. Egal, ob sie im Moment des Todes am Bett sitzt oder nicht, manche Menschen sterben lieber allein. Ich glaube das macht das Gehen einfacher. Ihr habt alles richtig gemacht, besser geht es nicht.

Herzliches Beileid!

Paula hat gesagt…

Seid doch unbesorgt!
Auch die Blätter fallen
ohne Murren ab!

(Kobayashi Issa, 1763-1828)

Lily hat gesagt…

Vielen Dank, Alessa. Und dir auch, Paula. Der Haiku trifft sehr den Kern, denn das Motto der Trauerkarte ist das Blatt, das vom Baum fällt. Meine Nichte hat einen schönen Text geschrieben, der bei der Trauerfeier verlesen wird, und das Evangelium wird das vom Weinstock sein. Morgen ist die Beerdigung, danach setzt der Alltag wieder ein. Nochmals Danke.