Samstag, 12. September 2009

Die Pfeife


Ein energisches Klingeln an der Tür weckte mich. Laut Wecker war es viertel vor acht- ich konnte einfach noch nicht reagieren.
Diesseits der Datumsgrenze war zudem meines Wissens Sonntag, und ich erwartete niemanden.
Der Eigentümer des auf den Klingelknopf gepressten Fingers erwartete jedoch offenbar, dass ihm jemand antwortete. Eigentlich hätte er mit dem hysterischen Kläffen des Yorkshires aus der Nachbarwohnung zufrieden sein müssen, jedoch schien dies ihn eher zu beflügeln. Er gab jedenfalls nicht auf.
Ich kroch aus den Federn. Mein Gesicht fühlte sich an, als habe es über Nacht den Kampf gegen die Schwerkraft verloren, und es fiel mir schwer, die Augen lang genug offen zu halten, um den Bademantel in dem Haufen Wäsche auf dem Fußboden zu orten. Schließlich hatte ich das Ding ausfindig gemacht, und zog es an.
Der Gürtel fehlte.
Die Klingel schrillte.
Ich verschob die Lösung der Verschlussproblematik auf später und steuerte schwankend durch den dunklen Gang auf die Wohnungstür zu. Morgens um diese Uhrzeit pflegt mein Kreislauf noch der Ruhe, und der aufrechte Gang ist doch eher etwas für ausgeschlafene Naturen.
Wie die Gestalt vor meiner Tür.
Einsfünfundsechzig hoch und ebenso breit, mit einem angriffslustig gespitzten Bärtchen und hochrotem Gesicht, stand der Nachbar Kleinemeier von unten spreizbeinig im Treppenhaus. Sein ballonseidener Jogginganzug schillerte radioaktiv.
„Sie...!“ Er ist einer der wenigen Menschen, die Ausrufungszeichen hörbar machen können.

Der Blick, mit dem er meinen halbnackten Astralleib musterte, sprach empörte Bände.

„Ich.“ Zugegeben, die Antwort war kaum originell zu nennen, aus mir unerfindlichen Gründen schürte sie jedoch außerdem den Zorn meines Gegenübers.
Der schnappte nach Luft, und ich versuchte, mein träges Hirn dazu zu bringen, mich trotz Restalkohols und Schlafmangels an die Grundzüge der Ersten Hilfe bei Schlaganfällen zu erinnern.
Jenseits des Treppenabsatzes öffnete sich die Tür einen Spalt breit, außerdem hatte man dem Yorkie den Hals umgedreht. Eine Wohltat.
„Ich bitte mir RUHE aus, Sie Schlampe! Es ist SONNTAG, und noch dazu HALB ACHT! Das ist eine UN! VER! SCHÄMT! HEIT! sondergleichen...“
Irgendein Reflex veranlasste mich dazu, ihn zu unterbrechen.
„Es ist schon
viertel vor acht, guter Mann!“
Das beruhigte ihn keineswegs.
„ICH BIN NICHT IHR GUTER MANN! GEBEN SIE GEFÄLLIGST RUHE! WO KÄMEN WIR DENN DA HIN, WENN JEDEr IRRE HIER MACHEN KÖNNTE WAS ER WOLLTE...“

Frau Klotschek von gegenüber streckte jetzt den Kopf ganz ungeniert zur Tür heraus. Ihr Mund stand offen, ihr Gebiss schwamm wohl noch in Kukident. Am Boden sabberte ihr der Yorkie auf die rosa Fellpantoffeln.


Vermutlich schaute ich schafsdämlich aus der Wäsche. Gegen drei war ich nach Hause gekommen, aber die acht Bierchen des Abends hatten mich weder zum Absingen schmutziger Lieder noch zum Kleinmöbel-Kegeln veranlasst. Da war ich sicher.
„Worum geht’s denn eigentlich?“
„Dieses Pfeifen..:“ inzwischen zischte er nur noch. „Wenn Sie nicht so-fort! dieses ohrenbetäubende Pfeifen abstellen, dann ruf ich die Polizei. Sie können sich hier nicht alles erlauben, nicht mit mir. Ich weiß nicht, was für eine Höllenmaschine Sie hier basteln, aber dieses Pfeifen geht entschieden zu weit. Dafür wird sich die Kriminalpolizei bestimmt interessieren. Und überhaupt, wer hier alles raus und rein geht, das ist schon nicht mehr feierlich, sag ich Ihnen. Das wird ein Ende haben, dafür werde ich schon sorgen. Morgen, das verspreche ich Ihnen, morgen früh ruf ich meinen Anwalt an. Das lass ich mir nicht bieten, ich nicht!“


Frau Klotschek hielt die Hand vor die rosigen Kiefer und kicherte, bemerkte aber nicht, dass der Yorkshire hündischen Gefühlen von Inkontinenz auf ihrem rechten Hausschuh Ausdruck verlieh.
Ich zwinkerte dem Hund zu, was der Nachbar falsch verstand.
„Das ist doch wohl die Höhe... Das muss ich mir nicht gefallen lassen! Wahrscheinlich sind das lauter Freier, die hier abends durch den Flur strolchen, man kennt so was ja. Sodom und Gomorrha, aber nicht mit mir. Nicht mit mir, das sag ich Ihnen! Sie... Flittchen, Sie! Sie stellen jetzt sofort dieses Pfeifen ab, oder ich ruf die Bullen. SOFORT! Demnächst gehen hier die schwulen Mörder ein und aus, und bringen uns alle im Schlaf um... Seines Lebens ist man nicht mehr sicher, das steht schon mal fest!“
Über dem Treppengeländer zum zweiten Stock erschien ein bleiches Gesicht.
„Kann mir mal einer sagen, was zum Teufel hier los ist? Ich wollte eigentlich noch etwas länger schlafen!“
„Da, sehen Sie mal, jetzt haben Sie alle wach gemacht mit dem Gepfeife!“ Triumphierend drehte er sich zu Sandra von oben und nickte ihr bestätigend zu.
„Nix da, was für ein Pfeifen? Sie brüllen hier wie ein Gestörter rum, da kann doch kein Mensch mehr schlafen! Ich hör kein Pfeifen, nicht bei dem Geschrei.“ Die Stimme der Vernunft. Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
Nun aber nahte die Kavallerie in Gestalt eines weiteren, in den Augen schmerzenden Jogginganzugs, diesmal mit Birkenstockantrieb. Des Brüllaffen Gattin.

„Heinz!“ Das verhieß nichts Gutes. Üblicherweise lautete der Codename `Schatzi', und folgerichtig schwenkte mein Kontrahent um 180 Grad, um den Feindseligkeitskoeffizienten der ihm amtlich Zugewiesenen besser einschätzen zu können.
„Mari...anne?“
In einer einzigen, fließenden Bewegung schnappte sich die Klotschek den Yorkshire, trat den strategischen Rückzug an und schloss behutsam die Tür.
Sandra grinste breit, und ich raffte den Rest meiner Würde samt der gelb-roten Pracht meines Bademantels zusammen.
Marianne schwenkte etwas. Es sah aus wie eine weiße Fahne.

„Heinz! Es ist doch immer das gleiche mit dir... Du kommst jetzt sofort mit mir nach unten, und lässt die Leute in Ruh. Dann liest du dir bitte die Anleitung für dein neues Hörgerät einmal laut vor. Und dann schlage ich dir vor, dass du dich jetzt schon mal entschuldigst...“

7 Kommentare:

Georg hat gesagt…

Echt jetzt?
Tötet Kodo...

Pauls-wunderwords hat gesagt…

Sehr amüsant geschrieben. Ich dachte ja der alte Sack hat Tinitus. Auf jeden Fall hättest du ihm sagen können: "Schweig Bürger, denn es heißt immer: Sprechen Sie nach dem Pfeifton". :)

Lily hat gesagt…

Hmnja, bevor hier der Eindruck entsteht, in unserem Treppenhaus würde sich derartiges Gesocks rumtreiben: Das ist reine Fiktion, mal wieder.
Und recycelt.
Aber wer oder was ist Kodo? Ich kenn nur die Echsen im Brachland bei WoW, die Kodo heißen.

Frau Vau hat gesagt…

Hihi... ich dachte auch irgendwann an Tinnitus, aber das Hörgerät - einfach klasse!
Aus der Figur (die mit dem Bademantel) liesse sich eine prima Hauptfigur für einen Krimi machen!

Georg hat gesagt…

Kodo der dritte, aus der Sternenmitte, bin ich der Dritte von links.

Und ich Düse Düse Düse Düse im Sauseschritt... Trallaallaaaa

Meise hat gesagt…

Genial!

Lily hat gesagt…

:-)