Von meinem Zimmer aus sieht man einen Wassergraben und einen Bach, dazwischen einen Saum von Bäumen, und eine Ecke einer Weide. Pferde stehen drauf. Die Vögel, ganz erstaunlich laut, sind nicht zu sehen, aber weithin zu hören. Das fällt besonders auf, weil hier die dreistimmige Sinfonie aus Autobahn, Bundesstraße und Eisenbahnstrecke fehlt, die mich zu Hause in den Schlaf bringt.
Die erste Nacht war nicht gut, wirklich nicht. In halbstündigen Abständen aufgewacht, Rücken, Nacken oder sonstwas als schmerzhaft verkrampft empfunden, außerdem war es (in dieser Reihenfolge) zu warm, zu still, zu sehr nicht zu Hause.
Hab ich alles richtig gemacht, frag ich mich, und mag nicht über die Frage nachdenken, denn eine Entscheidung, für die ich so lang gebraucht habe, soll nicht am Grübeln einer Nacht zugrunde gehen. Was wollen die Leute hier alle von mir, frag ich mich, und möchte zu gern mich unter der Decke hier einfach ein Weilchen verkriechen, vielleicht auch einfach unter der Decke des (nicht belegten) Nachbarbetts, denn dort kann mich eigentlich keiner so schnell finden. Oder. Oder?
Sobald ich mein Zimmer verlasse, ergreift die Atmosphäre der Klinik Besitz von mir, entspannt und zurückgelehnt, und (sind das hier nicht alles Depressive?) erstaunlicherweise voll Lächeln und Gelächter. Es ist ein altes Haus, mit historischen Nebengebäuden, alles sehr übersichtlich von der Anzahl der Menschen und der Struktur der Gebäude.
Ringsum Wiesen und Wälder, über den Gewässern der Umgebung steigt abends der Nebel auf und ich fühl mich hier wie mitten in Deutschland in einer Zeitzone, die außerhalb der Erreichbarkeit durch den Alltag liegt. Eins der Symbole dafür, und wenn nicht genial geplant, dann von überraschend poetischer Bildhaftigkeit, ist die komplett falsch gehende barocke Uhr am Giebel des Haupthauses. Die wird, wenn ich gleich runter gehe, irgendwas zeigen wie Viertel nach drei.
Und weil das alles sehr schön hier ist, fast weh tut vor Schönheit, muss ich ab und zu in mein Zimmer zurück, ein bisschen Grübeln.
Es sei denn, es geht wie gestern Abend: Im Zimmer wartet ein Stapel psychologischer Tests Abgabe bitte ausgefüllt in spätestens zwei Tagen, sowie ein Buch, der Fernseher und der Laptop auf mich. Aber ich gehe mit den Mädels aus meiner Gruppe noch mal in den Ergo-Raum und mach was an meinem ersten Objekt.... Die Sachen, die ich bisher aus der Gruppe hier gesehen habe, sind von sehr hoher Qualität- da wird nicht dilettiert, da wird nicht gebastelt, das ist Kunst.
Und ich lerne: Ein bisschen Geduld mit mir, ein ganz kleines Bisschen. Aber nur, weil der doofe Speckstein nicht schneller nachgibt.
Liebe Grüße,
Die Lily
Donnerstag, 10. Juni 2010
Bericht von einem geheimnisvollen Ort/Bootsfahrt auf dem Tränenkanal Teil II
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6 Kommentare:
Wie schön, von dir zu lesen. Ich versuche gerade, mich dir vorzustellen, wie du deinen KlinikAlltag meisterst und so aus der Ferne sieht das sehr gut aus.
Ich wünsche dir nur das Allerbeste.
Herzlich, Svenja.
@Svenja: Es ist irgendwie so, als sei ich von zu Haus weg, aber noch nicht richtig hier angekommen- ich denke aber, das wird noch. Jedenfalls geht es mir hier erheblich besser als noch vor drei Tagen, und das ist gut so.
Fragen sind an sich nicht schlecht, solange sie nicht anfangen zu rotieren und ein Eigenleben zu führen. Aber dafür sind die draußen vor der Zimmertür ja da.
Grübel nicht zu viel, und grüß mir den ollen Japaner.
Na, das klingt doch nicht schlecht, und Nicht-Schlafen-Können in der ersten Nacht, wer kennt das nicht. Ich brauche immer 3 Tage an einem fremden Ort.
Wie ist denn das Essen?
Das klingt doch sehr beschaulich.
Ich werde mir das wohl mal aus der Nähe ansehen.
Was zum T. ist denn dieser Speckstein?
Ich könnte ja Guhgeln aber ich habe keine Lust. DSL ausgefallen. Guhgeln per Pony Express ist Mist.
Speckstein ist ein Mineral, was weich genug ist, dass man es gut bearbeiten kann (Figürchen, Kettenanhänger usw.). Wenn man Speckstein feilt, fühlt sich der Abrieb leicht "speckig" an.
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