Freitag, 8. Februar 2008

Sterne und Kreuze

Der Himmel ist so blau, dass es in den Augen schmerzt, und die Temperatur erreicht Frühlingsniveau.
Es hält mich wirklich nichts in diesem Büro, und da es Zeit für die Mittagspause ist, beschließe ich, ein paar Meter zu laufen.
In der Nähe meines Büros ist ein alter Friedhof. Friedhöfe in dieser Stadt sind mir vertraut seit Kinderzeiten- da habe ich, zusammen mit einer Freundin, mit vom Komposthaufen geklauten Blumen, die „noch gut“ waren, vergessene Einzelgräber von Kindern geschmückt. Für Kinder gab es ein extra Grabfeld, kurz nach dem Eingang des Friedhofs. Wir zwei fanden den Gedanken daran, dass da Kinder in unserem Alter lagen, an die sich niemand mehr erinnerte, sehr schrecklich.
Einige Zeit, nachdem wir damit begonnen haben, wurde das Feld dann eingeebnet.

Uns war damals nicht wirklich klar, wie lang die Kinder dort schon tot waren, oder dass viele von ihnen, wenn sie nicht schon im Kindesalter gestorben wären, unsere Großeltern hätten sein können- die Ruhefristen betrugen in den sechziger Jahren noch 50 Jahre.

Der Friedhof, auf dem ich heute Mittag eine Stunde herumgelaufen bin, ist wirklich ein alter Friedhof. Er ist –sowohl von den Steinbildnissen her als auch von der Anlage- ein Überbleibsel aus vergangenen Jahrhunderten, und noch dazu mitten in der Stadt gelegen. Wenn man ihn nicht kennt, wird man ihn trotzdem nicht einfach so finden, denn von der Straße aus gesehen tarnt er sich als Park.
Der Hauptweg verbindet zwei Straßen, die sonst nur über Umwege miteinander verbunden sind, und ist deshalb eine willkommene Abkürzung zwischen einem Wohngebiet und einem großen Aldi-Markt.
An diesem Hauptweg liegen einige Gräber mit hier bekannten Namen, sie scheinen ein bisschen abgenutzt zu sein von den achtlosen Blicken der Abkürzer, die mit Einkaufstaschen oder Kinderwagen beladen daran vorbei laufen. Ein Bauwagen verspricht Mittagspause für die Arbeiter, die die Kieswege harken.
Wie auf vielen Friedhöfen sind auch hier die Gräber und Grüfte unter alten und mächtigen Bäumen angelegt, Immergrün streitet sich mit laubwechselnden Pflanzen, und viele Gräber sind kaum noch zu sehen unter Nest-Eiben und anderen, sich am Boden ausbreitenden Gehölzen. Manche Grabsteine stehen halb in der Erde versunken zwischen zwei eng nebeneinander hochgeschossenen Buchen- die Steine sind aufgestellt worden, als an diese Bäume noch niemand dachte.
Es gibt Grabdenkmäler, die stolz auf einem Giebel über dem Feld mit den Vornamen eine Überschrift tragen: Ruhestätte der Familie X – unterhalb des Giebels ist dann oft eine Pietà, oder ein gekreuzigter Christus in einer Nische dargestellt, unbeeinflusst von dem, was war.
Denn die Verstorbenen sind lange tot, sehr lange, und der Grabstein, eher ein Epitaph, wurde in Stein gehauen für die Ewigkeit.
Manche Inschrift dokumentiert, dass der letzte dort beerdigte Mensch starb, lange bevor ich geboren bin. Und trotzdem kennt man viele Namen- es sind wohl große und weit verzweigte Familien, deren Nachfahren immer noch in dieser Stadt leben, und immer noch Ärzte, Priester, Anwälte sind, oder die ein Familienhandwerk weiter betreiben. Viele Namen tauchen auf mehreren Grabstätten auf, und man kann erkennen, wie die Sippen zusammenwuchsen, untereinander heirateten und ihre Eltern, Großeltern, Ehepartner oder Kinder dann gemeinsam unter die alten Bäume legten.

Auf einigen Grabsteinen sind nur Sterbedaten aus den Zeiten bis Mitte der vierziger oder fünfziger Jahre- ich habe mich gefragt, wer sie beerdigt hat, wo doch offenbar niemand mehr dort hinzu kam seit über fünfzig Jahren. Sind die Familien weg gezogen? Haben sie auf anderen Friedhöfen neue Gruften erworben, weil niemand mehr dazu gelegt werden durfte?
Das sind Gräber, auf deren Steinen oft zehn oder zwölf Namen Platz gefunden haben, und Tode aus zwei Jahrhunderten dokumentieren.
Aus den dreißiger und vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts existiert eine viel vertretene Art der Steine: Wie kleine Türmchen, meist aus einem Material, das heute aussieht wie Gips (aber bestimmt mal Marmor war), mit einer Tafel aus poliertem schwarzem Stein, auf dem früher goldene Buchstaben verkündeten, wer dort liegt- sie sind vielleicht einen Meter dreißig hoch, und sie finden sich überall auf dem Gelände.
Und trotz aller aufkommenden Erinnerungen an die Zeiten zwischen 1933 und 1945- auf keinem Grabstein, keiner Gedenktafel stehen die bösen Worte „in stolzer Trauer“. Ich glaube, dass keine Mutter und kein Vater diese Worte in Stein gemeißelt sehen wollte.

Die Soldaten, derer hier gedacht wird, liegen oft nicht bei ihren Familien, sondern es wird erwähnt, dass sie gefallen sind, und am Ort ihres Todes beerdigt. Manche Tafeln tragen die Aufschrift: Vermisst.
Wie viel Hoffnung muss gestorben sein, bis man einem Friedhof eine Steintafel mit diesem Text anvertraut?

Trotzdem der Friedhof zwischen zwei Hauptstraßen liegt, ist es sehr ruhig hier, sieht man einmal von den Passanten auf dem Hauptweg ab. Ich schaue mir die Inschriften an, die Gräber der Priester an der innenstädtischen Hauptkirche, geboren, gelebt und gestorben über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten, und entdecke einen ganz kleinen, schiefen Block aus grün bealgtem, porösem Stein, zwischen dessen angeschlagenen, verschnörkelten Rändern noch schwache Zahlen und Buchstaben zu erkennen sind.
Und die zwei Zeichen, die auf beinahe keinem Stein hier fehlen: Der Stern. Und das Kreuz, die die Eckpunkte eines Menschen anzeigen: Geburt und Tod.

Dazwischen: Möglichkeiten. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ich kenne auch einen Friedhof, auf den ich ausgesprochen gern gehe, liegt auf dem Land in einer Kleinstadt, wo Familien noch ihre Gräber haben, frühere Pastoren, Gemeindeschwestern und Stadträte verewigt sind, ein Ehrenmal für die Soldaten der beiden Weltkriege in der Ecke steht, so wie es sich gehört, und der sehr schön ruhig zwischen hohen Bäumen darliegt und viele zwitschernde Vögel beherbergt.

Zweimal im Jahr rupfe ich Unkraut, pflanze ein paar Vergissmeinicht oder Margeriten um den kleinen liegenden Naturstein, auf dem der Name meines Vaters steht, und denke an ihn, der ganzen ignoranten Verwandtschaft zum Trotz... Der Mensch braucht solche Stätten zur Erinenerung an die Toten, an anonyme Grabstätten will und werde ich mich nicht gewöhnen, Friedwälder ausgenommen - mit kleinen Schildchen an den Bäumen.

E. aus H.