Ein Esszimmer zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Tisch, oval und sehr groß, in der Mitte des Raums, mit 9 Stühlen ringsherum.
Auf dem Tisch steht eine Kaffeekanne, ein großer Teller mit Kuchen und Teilchen, daneben ein Stapel Kuchenteller, einige Gabeln und ein paar bunte Servietten. Eine Isolierkanne auf einem Tablett, ebenso ein paar Flaschen mit Saft, Wasser, Cola, Wein und Bier.
Auf einem weiteren Tablett Tassen, Untertassen, Gläser, Untersetzer, Zucker und Milch, Kaffeelöffel und Süßstoff.
Die Gastgeberin betritt den Raum, eine Frau Mitte 40, in Jeans und langärmligem T-Shirt. Sie trägt eine Brille, hat kurze, dunkle Haare und sieht blass, aber kein bisschen bemerkenswert aus.
Sie schaut auf die Uhr an der Wand und geht zum Fenster, schaut hinaus, zuckt die Achseln und dreht sich zum Tisch.
Dort rückt sie an einem Platz ein großes Kunststoffset zurecht, darauf liegen Buntstifte, ein Malblock, Knetgummi, Fingerpuppen.
Sie dreht sich um, und holt aus einem Vertiko einen Stapel blassblauer Pappkärtchen, setzt sich an den Tisch, und zieht einen Filzschreiber aus der Tasche.
Sie ist Mitte 40, aber beim Schreiben sieht man ihre Zungenspitze im Mundwinkel. Auch wird sie in Kürze schwarzen Filzschreiber an den Fingern haben.
Sie nimmt eine Karte nach der anderen und schreibt einen Namen auf jede.
Dann steht sie langsam auf, geht um den Tisch herum, und stellt an jeden Platz ein Namenskärtchen.
Es klingelt, und sie bleibt einen Moment stehen, atmet tief ein, geht zur Tür und öffnet.
Man sieht ein Treppenhaus aus den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, 40 Jahre später schlecht renoviert, mit einem erneuten, wieder misslungenen Versuch vor kurzer Zeit.
Von unten dringen Geräusche hinauf, die Frau lehnt am Rahmen und hat die Tür nur einen schmalen Spalt breit geöffnet.
Die Geräusche werden lauter.
Die Frau öffnet die Tür ganz. Auf dem Treppenabsatz stehen zwei Kinder und ein Teenager.
Die Kinder sind drei und acht Jahre alt, die Jugendliche ist ungefähr 16.
Man steht sich gegenüber, bis die Frau einen Schritt zurücktritt und die Mädchen an ihr vorbei die Wohnung betreten.
„Kommt rein“ sagt die Frau, und legt der Achtjährigen die Hand auf die Schulter, „kommt rein. Da könnt ihr eure Jacken aufhängen,“ sie weist auf eine Garderobe an der hinteren Dielenwand.
Die beiden älteren Mädchen ziehen die Jacken aus, die Frau kniet vor der Kleinen und öffnet die Knöpfe an deren Mäntelchen.
Das kleine Mädchen trägt ein Schürzenkleid, Strumpfhose und feste Schuhe, die Achtjährige Rock und Pullover.
Die Frau sammelt die Jacken und den Mantel ein und hängt sie an die Garderobe.
„Geht schon mal durch, und sucht euch einen Platz“ ruft sie den Kindern hinterher, und macht kurz vor dem Spiegel halt.
Sie scheint etwas in ihrem Gesicht zu suchen, dann schüttelt sie den Kopf und geht ebenfalls ins Esszimmer.
Die Dreijährige sitzt bereits auf ihrem Stuhl, den irgendjemand mit einem dicken Kissen passend gemacht hat, und inspiziert unter der Anleitung der Größeren die Stifte und das Knetgummi.
Die 16-Jährige sitzt ihr gegenüber und dreht eine Fingerpuppe in der Hand, immer und immer wieder.
Sie spricht nicht, aber als die Frau ihr die Hand auf die Schulter legt, lehnt sie ihren Kopf zurück und schließt die Augen.
Es klingelt erneut, und die Jugendliche öffnet die Augen wieder. Sie schaut den Kindern zu, die inzwischen mit den Mal- und Bastelsachen auf den Boden umgezogen sind, und sich bestens zu verstehen scheinen. Die Achtjährige erklärt der Kleinen die Welt, während sie ihr einen Elefanten malt.
Etwas später stehen zwei Frauen in der Tür. Eine ist Mitte zwanzig, konservativ gekleidet, im Kostüm, mit Bluse, Strümpfen und Pumps, einer praktischen Handtasche und einer nichtssagenden Frisur. Sie lächelt die Kinder an, spricht jedoch nicht mit ihnen, geht um den Tisch herum und setzt sich.
Die andere Frau ist ungefähr zehn Jahre älter, in Jeans und Turnschuhen, mit einer abgewetzten Lederjacke, einem drei-Millimeter-Haarschnitt und einem Motorradhelm unterm Arm.
Mit einer Hand dreht sie sich eine Zigarette, schaut sich dann suchend um und verlässt das Esszimmer wieder, um auf den Balkon zu gehen.
Dort zündet sie die Zigarette an, inhaliert tief und ungeduldig, und kehrt schnell wieder ins Esszimmer zurück.
Dort sitzt inzwischen auch die Gastgeberin am Tisch, schenkt Kaffee ein und verteilt Kuchen und Sahnestückchen, gießt den Kindern Saft in große Becher und nimmt sich selbst zum Schluss ein Glas Wein.
Alle trinken und essen schweigend, man schaut einander nicht ins Gesicht.
Nur die Kinder unterhalten sich, die Kleine verlangt Tier um Tier gemalt zu bekommen, die Große malt kichernd Krokodile, Pferde und Katzen, einen ganzen Zoo auf Stapeln weißen Papiers.
Die Kleine rollt Kügelchen aus der Knete, und setzt sie zusammen zu Fantasiegebilden:
„Das wär jetzt wohl ein Eisbär... Malst du mir einen Eisbär, kannst du das? Nein, lieber nicht, lieber eine Maus, eine richtige Maus, mit einem blauen Schwanz.“
Und die Größere malt und kichert, und schiebt die Zungenspitze aus dem Mundwinkel.
Schließlich steht die Frau auf, und geht zu dem Vertiko an der Wand unter der Uhr.
Sie öffnet die Schublade, holt einen Stapel Umschläge heraus und schließt die Lade wieder. Dann geht sie zum Tisch zurück, und gibt jeder der drei Frauen einen Umschlag.
Dann beugt sie sich zu den Kindern hinunter, nimmt die Kleine auf den Arm und flüstert ihr etwas ins Ohr.
„Magst du das?“
Die Kleine nickt, und strampelt sich auf den Boden zurück. Dann sammelt sie die Bilder ein, die Stifte und das leere Papier, und legt alles in eine Schachtel, die die Frau ihr hinstellt.
Das Knetgummi, in eine Plastiktüte gefüllt, folgt als letztes.
Dann läuft die Kleine in die Diele, nimmt von der Achtjährigen ihren Mantel entgegen und zieht ihn an.
Auch die Anderen sind aufgestanden, schieben die Stühle zurück an den Tisch, und bringen das benutzte Geschirr in die Küche.
Währenddessen gibt die Frau dem größeren Kind ein schmales Päckchen, in dem es verheißungsvoll klappert, und den letzten Umschlag, den sie noch in der Hand hatte.
Die Kleine schaut mit großen Augen, und bekommt ebenfalls ein mit einer Schleife verpacktes Geschenk, dass sie sofort auspackt- ein Stift ist darin, an dessen oberem Ende ein rosa Herz blinkt, wenn man mit ihm schreibt oder malt.
Die Kleine legt den Finger über den Mund, schaut die Frau an und sagt „Pssssst“- dann grinst sie verschwörerisch.
Zum Abschied nimmt die Frau sie in den Arm, und einen Moment lang stehen alle zusammen in der Diele, und lächeln- zum ersten Mal seit sie gekommen sind.
Sie gehen.
Die Frau schließt die Tür und schaut am Fenster zu, wie sie kleiner werden, bis alle verschwunden sind.
Dann dreht sie sich zum Tisch, und sammelt die Platzkarten ein, streicht sie glatt und öffnet die Schublade am Vertiko.
Eine Karte nach der anderen legt sie in die Lade.
Auf jeder Karte steht ein Name: "Lily".
Eine gute Nacht Euch allen,
L.
10 Kommentare:
Wow
Soo viele hätte ich nicht erwartet.
Ich hoffe es hat Dir gefallen...
Wenn du mitgezählt hast, wirst du merken, dass drei nicht gekommen sind :-)
L
Trotzdem.... wirklich... wirklich WUNDERbar (mit großem Wunder)
Hm. Jetzt wundere ich mich- über den Kommentar. Hat das Posting für Verwunderung gesorgt? Oder wie?
Grübelt
Lily :-)
Am besten gefallen haben mir die 16-jährige, die dreißigjährige und die Mittvierzigerin.
Keine Sorge, so viele hätte ich auch wahlweise anzubieten. Bei mir kämen noch zwei Omas dazu, und ein Drachen.
Hauptsache ich weiß immer, wer die jeweilige Moderatorin des bunten Haufens ist.
Zwinker! (Ich werde es nie lernen, wie man diese Smileys reinkopiert)
P.
Oh, meine persönliche Freundin ist die Mittzwanzigerin auch nicht- mit der hab ich so meine Probleme.
Aber es wird :-)
So schoen....
:-)
@ Frau Vivaldi-ich hoffe, es geht gut in Spanien...
LG
L
Cool! Klasse Geschichte! Ich hoffe aber doch, dass beim nächsten Besuch die erwachsenen Lilys mal miteinander reden... -
Kannst du echt mit einer Hand eine Zigarette drehen?
Kann ich- aber nicht besonders gut. Rauchbar sind sie aber.
Ich konnte auch mal mit einer Hand ein Streichholz anzünden, das geht irgendwie nicht mehr.
Man wird alt.
L
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