Dienstag, 7. Oktober 2008

First steps





Wer mich kennt, weiß, wie reizbar ich sein kann. „Die Fliege an der Wand?“ fragte die Ärztin gestern, als ich ihr ein paar Eimer Spritzen voll Herzblut überließ, zwecks Analyse. Dazu nickte sie kenntnisreich, weiß sie doch um die Nebenwirkungen zu hoher Schilddrüsenwerte. Aber die Schilddrüse ist es nicht, sondern mein Wesen, welches schnell und ausgiebig nach Blut lechzt, sobald mir wer quer kommt.

Letzthin nannte mich wer „gewaltbereit“- okay, das war in einer anderen Welt, aber dennoch.

Leider bin ich auch ein Weichei. Also dringt selten etwas von meinem Zorn bis zu dessen Verursacher.

Wobei mich die seltsamsten Dinge in einen glühenden Verfechter der Sofort-Exekution verwandeln können. Die Leute zum Beispiel, die Reißverschlüsse so konstruieren, dass die ihren Geist immer dann aufgeben, wenn sie geschlossen sind. Macht ja auch mehr Spaß, sich die Insassen einer Jeans vorzustellen, wenn sie zum Klo müssen und dieser blöde Fitzel von Anfasser reißt ab. Oder der Schlitten verklemmt sich unter Mitnahme eines Stücks Haut...

Ich vermute allerdings, dass derlei Ungemach auch einen Säulenheiligen in einen rasenden Irren verwandeln kann. Nehmen wir also was anderes.


Der Depp, der euch zuparkt.

Der Idiot, der morgens um fünf mit achtzig Sachen durch die Anwohnerstraße semmelt, und dabei irgend so ein „dunk, dunk“ aus seinen Boxen dröhnen lässt.



Ach menno, alles keine Beispiele, um meine besonders irrationale Art von Zorn zu illustrieren.



Naja. Lassen wir die Beispiele mal außen vor.

Es geht also um Zorn, der sich in keinem Verhältnis zum Anlass mehr befindet, über Dinge, die mich nicht mal was angehen, irgendwelche Lappalien, Pippikram, Peanuts.

Über das/die ich mich aufregen kann, und zwar ziemlich.

Ich weiß natürlich, dass es sich um Kleinigkeiten handelt. Nicht-der-Rede-Wertigkeiten. Die Sorte Dinge, über die sich nur ein Spießer aufregt.


Da. Jetzt hab ichs geschrieben: Spießer.


Gleichzeitig mit der mehr als kritischen Messlatte an andere verlangt die innere Gerechtigkeit, dass man diesen Maßstab auch an sich selbst anlegt.

Dabei heraus kommen Leute, die wie ich, 27 Jahre ihren Führerschein haben, und noch nicht ein einziges Knöllchen für zu schnelles Fahren bekommen haben. Einmal kam da ein Blitz vom Straßenrand, aber da überholte ich gerade einen LKW und vermutlich war das Bild nicht eindeutig- aber das war das einzige Mal in 27 Jahren. Eine Knolle für falsch Abbiegen, und drei für Parkzeitüberziehen in 27 Jahren.

Das ist oberspießig.

Nicht dass ich scharf wäre auf Knöllchenzahlen, aber verdammt, ich fahre gerne schnell. Meist verkneif ich mir das aber- und zwar nicht, weil gerade Tempo dreißig oder Spielstraße ist, sondern weil diese Spießeranteile in mir schon mal Verkehrserzieher spielen wollen.

Dann könnt ich ins Lenkrad beißen, weil schnell fahren doch viel mehr Spaß machen würde als mit der Nase an der Tachonadel und 50 km/h dahin zu schleichen. Aber nein, anderen gestehe ich das nicht zu, also mir auch nicht.

Das macht echt unzufrieden. Schlecht fürs Karma.

Da las ich dann gestern oder heute in einer Mail einen vielsagenden Satz, ich krieg ihn leider nicht mehr wörtlich hin. Sinngemäß stand da:

Überleg mal 5 Minuten lang, ob der, der dir da auf den Schlips tritt, das vielleicht nicht tut, um dich zu kränken oder dich zu ärgern oder dir zu nahe zu treten.



Als heute nachmittag auf dem Weg nach Hause ein Mädel, offenbar sehr unsicher, mir beim Wegfahren vom Straßenrand um ein Haar in die Kiste gefahren ist, und ich schon wieder das HB-Mädchen spielen wollte, schoss mir dann dieser Satz durch den Kopf.

Die Antwort konnte nur lauten: Nein. Das hat sie nicht gemacht, um mich zu ärgern, vermutlich hat sie einfach (noch) keine Übersicht. Ohne Übung wird sie die nicht kriegen, also sollte sie Auto fahren üben, und das geht nur auf der Straße. Dabei sollte sie nicht gleich fürchten, dass sie für jeden Fehler gesteinigt wird, davon fährt sie nicht besser.

Der Zornknoten, der sich schon wieder bilden wollte, kam gar nicht dazu.

Und zweihundert Meter weiter, da, wo die Straße breiter wird, keine Leute mehr wohnen und niemand parkt, bin ich dann richtig aufs Gas- scheiß drauf, dass da die Radarwagen schon mal stehen. Und scheiß drauf, dass da 50 ist. Und du hast das nicht gelesen, Bruder!


Ein kleines bisschen hab ich da verstanden, dass jemandem etwas zu vergeben wichtiger ist für den, der vergibt, als für den anderen. Im Zweifel hat der nämlich gar keine Schuld, man selbst aber schleppt Zorn mit sich herum.

Was für eine Energieverschwendung.



Lily


9 Kommentare:

Frau Vau hat gesagt…

Weise Einsicht. Ich bin aber genauso - platze manchmal vor Wut, schieße erst und frage dann.. dabei täte mir das vorherige Überlegen mindestens genauso gut.
Werde ich mir zumindest mal als guten Vorsatz vornehmen!



Für 2012. Oder so. *g*

Meise hat gesagt…

Wow. Im Wütendwerden noch überlegen können - nicht schlecht. Kompliment!

Anonym hat gesagt…

Dann pack ich das Kissen fürs Fenster und die Kaffeetasse wieder weg, hatte ich dir schon besorgt! ;-)
Aber bisschen aufregen darf man sich, über den Deppen um 5 Uhr früh z.B.

Lily hat gesagt…

Hey- Zorn über den 5-Uhr-Typen: Immer. Auch gern kombiniert mit einer geeigneten Waffe :)
Aber eben nicht mehr über jeden Scheiß... und auf jeden Fall mal die Sorten langgehegten, vergrabenen Groll anschauen, der einen festhält und einem das Leben versauert.
Ich versuch es zumindest :-)

L

Anonym hat gesagt…

Es hat bei mir fast 25 Jahre gedauert zu merken, dass jemand der mich beschimpft wahrscheinlich nur die Uniform meint und nicht mich.

Schnelles Autofahren macht natürlich Spaß. In den normalen Grenzen sowieso. Wenn es das nicht täte, würde es ja niemand machen. NUR: Ich werde u.U. dafür bezahlt. Und eine Fahrt durch die City mit mehr als 100 sachen (Pfui der rast ja wieder) ist auch mit Blaulicht nicht spaßig. Ihr glaubt gar nicht, wieviele Menschen total überfordert sind wenn ein Blaulicht auftaucht und sie nur eine Gasse bilden sollen...

Aber ich habe leicht reden. Wenn ich wirklich schnell fahren will, dann bin ich ja in zehn Minuten am Nürburgring und kann da die Sau rennen lassen...

Allzeit eine Hand voll Gummi unterm Reifen...

Falcon hat gesagt…

OMMM, Frau Lily.
Ich sollte mir vielleicht auch mal ein paar Karaffen Herzblut abzapfen lassen, wenn man dadurch so viel gelassener wird.

Lily hat gesagt…

Tja. Vielleicht lags ja an dem Aderlass... nur soviel: Heut morgen bin ich mit lautem "dunk, dunk" durch die Tempo-30-Anliegerzone geheizt, mit 35(!!) und um halb acht.
Dazu lief "Absolutely everybody". Was ich immer gern höre, und was auf dem Weg zur Arbeit gute Laune macht.

Klapsenschaffner hat gesagt…

Die Reißverschlussaktion ist mir noch nicht widerfahren, aber der Bassfetischist um 8 Uhr morgens....der fährt auch hier vorbei. ...und er ist der Grund, warum ich ständig damit hadere, doch endlich einen Waffenschein zu erwerben.

.....aber: Du hast recht, das "Dunk,Dunk" ist, wenn man's selbst macht zu verknusen und auch für andere zu entschuldigen. (Wenn's allerdings dauernd ist und jeder meint seine Bassboxen auf Herz und Nieren im Wohngebiet testen zu müssen, dann FLIPPE ICH AUS!!!)

Vergeben und relativieren...
Der Gedanke "Mach ich das nicht ähnlich?" ist da immer sehr hilfreich. Und entspannt geht's viel schöner durch den Tag.

Anonym hat gesagt…

Wow, da tut sich ja schon einiges! Lily erfindet Lily neu! :)

Ich gebe zu bedenken, dass diese beiden Sätze

"Leider bin ich auch ein Weichei. Also dringt selten etwas von meinem Zorn bis zu dessen Verursacher. "

und

"Es geht also um Zorn, der sich in keinem Verhältnis zum Anlass mehr befindet..."

zueinander in einem ursächlichen Zusammenhang stehen könnten.

Und ich finde, es ist in Ordnung, sich und seine Grenzen zu spüren und diese auch der Welt zu vermitteln. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Gefühl, "dieser Ärger tut mir nicht gut, weil er zu nichts führt" und der Aufforderung "Sei doch anders!" durch einen Mitmenschen.