Mittwoch, 30. November 2011

Und pass auf dich auf…!



Das hört man öfter, und macht sich meist gar keine großen Gedanken darum- schließlich kann man das doch gar nicht nicht tun, oder? Dagegen steht doch wohl der Selbsterhaltungswille eines gesunden Ego, sollte man meinen?

Wie kommt es dann, dass so viele Menschen laufend Dinge tun, die nicht gut sind für sie? Vielleicht passen sie auf sich auf, wenn sie über die Straße gehen zu ihrem Auto, schauen, wie gehabt, nach links und rechts, bevor sie los gehen, aber bei den Sachen, die sie nach dem Einkaufen im Korb haben, kann einen schon der Verdacht beschleichen, dass viele Leute eben nicht auf sich aufpassen können.
Klar geht das jedem so, und ohne das ein oder andere Risiko lebt es sich entschieden langweiliger, finde ich- wie kommt es aber, dass manche Menschen so sehr von ihren Bedürfnissen und ihrem Überlebenswillen getrennt sind, dass sie sich wirklich und wahrhaftig nicht mehr aus dem Hochrisiko-Bereich befreien können?

Gestern Abend hab ich das gesehen, was gemeinhin als Volkes lustvolles Glotzen bezeichnet wird, als Voyeurs- TV oder wie auch immer. Eine von den Sendungen, bei denen man gern und vermutlich oft zu Recht den Sendern Zeigelust auf Kosten Betroffener unterstellt. Es ging um eine Frau, für deren Behausung das Wort „Messie- Wohnung“ unangemessen war. Das traf es wirklich nicht. Diese drei Zimmer waren eine Art Horror. Etwas über 50 m², angefüllt mit sechs (!) Tonnen (!!) Müll. Nicht einfach gesammeltem Kram, sondern Müll. Mitten drin schlief diese Frau auf einer mit Kippen und Abfällen übersäten Couch, im Arm das alte Kätzchen, das seit 18 Jahren ihr Leben teilte. Einen Rest Selbstachtung konnte man daran erkennen, dass sie ihre Kleidung im Keller in einem Extra-Schrank aufbewahrte, damit der Müllgestank nicht in die Klamotten zog. Natürlich gab es Schädlinge, und natürlich kackte die Katze nicht immer in die Kisten, die tatsächlich dort erreichbar standen, und auch nicht übermäßig verdreckt waren…

Einen einzigen Menschen hatte diese Frau, der sich noch nicht von ihr abgewendet hatte. Nämlich eine nicht mal halb so alte Frau aus dem Nachbarhaus, die aber auch nicht in diese Wohnung hinein durfte. Seit 7 Jahren hatte die Bewohnerin keinen Müll mehr entsorgt.

Wie kommt es zu so etwas? Die Frau ist nicht dumm, sie ist nicht faul- aber man könnte glauben, entsetzlich deprimiert und mental fast tot. Trotzdem wirkte sie im Lauf der Sendung ungeheuer lebendig, und sehr jung, fast wie ein Kind, das vollständig überwältigt ist von ihrem Leben und den Anforderungen, und genauso kindlich dankbar war sie für jedes kleine Fitzelchen Zuwendung und Unterstützung. Und sie hackte auf sich selbst rum. Herabsetzende Witzchen. Bissige, boshafte, schmerzhafte Bemerkungen.

Man merkte ihr nur deutlich an, dass sie keine Ahnung hatte, was überhaupt alles zu tun war… Wer schon mal depressiv war, kennt das, glaube ich. Wenn es einen richtig übel erwischt, kann die eigentliche depressive Episode ruhig schon vorbei sein. Aber selbst, wenn man es danach schafft, das, was täglich ansteht, zu bewältigen: Wie wird man den Berg los, der aus der Vergangenheit da liegt und einem auf der Seele brennt? Vielleicht hat das wirklich mal nur mit einer depressiven Phase begonnen- und als sie wieder „wach“ wurde, war da diese Masse, die sie einschloss und nicht wieder los ließ. Ich hatte auch den Verdacht, dass sie sehr viel Energie gebraucht hat, um nicht körperlich zu erkranken in diesem Müll. Vielleicht auch das Energie, die ihr im Alltag fehlte.

Die Frau vom Sender, die dann kam und sich kümmerte, nahm weder ein Blatt vor den Mund (aber einen Schutz vor die Nase- ich kann’s ihr nicht verdenken) noch verschlimmerte sie die Selbstvorwürfe der Frau.
Sie hat es gut gemacht, stand oft genug für eine Umarmung zur Verfügung (Respekt- die Wohnung muss furchtbar gestunken haben), ließ die Frau selbst aber nicht aus der Verantwortung, und war flexibel genug, um auch mal in ihren Zielsetzungen darauf einzugehen, wenn die Betroffene einfach überfordert war. Sie hat sie trotzdem nie spüren lassen, wenn sie Zweifel an ihrem Durchhaltevermögen gehabt haben sollte.
Während der gesamten Sendung war immer wieder ein Thema, dass das alte Katzi, welches mit der Frau in dieser Wohnung hauste, offenbar krank und nicht gut zurecht war. Und irgendwann hat die Aufräumfrau dann erreicht, dass das Tier zur Tierärztin kam. Natürlich war dann schnell klar, dass das Katzentier so krank war, dass man sie besser von ihrem Leid erlöste. Ich bin mir sicher, dass der Tod der Katze, wäre er ohne Tierarzt erfolgt, vermutlich auch für die Frau das Ende gewesen wäre. Denn sie hätte keinen Grund gehabt, morgens aufzustehen- nicht mal mehr den, Katzenfutter zu kaufen. Und ich glaube kaum, dass sie in der Lage gewesen wäre, sich von dem Körper der Katze zu befreien.

Die ganze Sendung, die natürlich gut ausging, hat mich so sehr mitgenommen, dass ich mich kaum lösen kann, wie man merkt. Ich hoffe wirklich, dass diese Frau es schafft, sich wieder neu in einer Wirklichkeit zurecht zu finden, die ohne Müll auskommt, und dass sie vielleicht Freunde findet, die ihr dabei helfen.
Sympathisch genug war sie auf jeden Fall. Und wenn auch meine Wohnung nur den Namen „Wohnung“ mit ihrer gemein hat, so kenn ich doch genug von Kraftlosigkeit und Verzweiflung um nachvollziehen zu können, dass so eine Sache einen wirklich, wirklich bösartig zerstörerischen Einfluss haben kann. Außerdem weiß ich, wie schwer es ist, sich Altlasten zuzuwenden. Die bringen immer jede Menge gut bekannter Selbstvorwürfe mit sich. Und sie trotzdem anzugehen ist das Schwierigste, was ich in meinem Leben getan habe.

Ich halte der Frau die Daumen, dass sie ihr Leben wieder für sich erobern kann. Und ich glaube, dass ich die Sendung nie wieder sehen möchte. 

Viel Glück nach Köln an dieser Stelle- 
wünscht die Lily.



Freitag, 25. November 2011

Kindheit (Teil 4324,5)




In letzter Zeit überfallen mich ungewohnt nostalgische Gefühle, wie man auch schon an dem Pösiealbumpost erkennen konnte. Diesmal geht’s um Musik- denn seit gestern plagt mich der gemeine Ohrwurm, in Gestalt des Fräreschacke.

Fräreschacke, Fräreschacke
Dommiwu? Dommiwu?
Sonni lematine, sonni lematine*
Dingding dong, dingding dong.

*„Lematine“ ist eine eng mit der Clementine verwandte Südfrucht, die vor allem in Kinderzimmern gern gegessen wurde, als ich noch klein war. Wenn sie besonders reif und saftvoll war, nannte man sie „Sonni lematine“, woraus man die Süße (schon rein von den Phonemen her) erahnen konnte.

Was vollkommen anderes spiegelt sich in dem Lied von der Kinderarbeit:

Schickt mich die Mutter die Hühner zu weiden
Nehm ich die Rute und treib sie hinaus
Dort wo das Korn steht auf sonniger Heiden
Scharren die Hühner und ich ruh mich aus

Doch, oh weh, jetzt sinds nur noch sieben
Wo ist denn das Achte geblieben
Nun darf ich nimmer nach Hause mich wagen
Nun darf ich nimmer nach Hause zurück.

Über den Graben da ist es entwichen
Läuft bis zur Wiese und läuft bis zum Teich
Da kommt der Fuchs aus dem Walde geschlichen
Packt sich das Huhn und verschlingt es sogleich

Vier Zeilen Text vergessen und dann geht’s weiter mit tätiger Reue:

Nun muss ich Körner zur Mühle hin tragen
Bring einen Sack voller Mehl dann nach Haus
Und zu der Mutter, da werde ich sagen
Koch eine süße Suppe daraus

Sind wir beide dann satt gegessen
Hat auch die Mutter das Hühnchen vergessen
Dann darf ich wieder nach Hause mich wagen
Dann darf ich wieder nach Hause zurück…

Das spricht für sich, finde ich. Kein Pardon mit dem Kind, dem das Huhn abhanden gekommen ist- aber im Unterschied zu damals wird keine heutige Mutter sich wegen eines verbummelten („Vom Fuchs gefressen!!“) Handys nur mit einem Burger ruhig stellen lassen. Da muss mindestens noch ein Shake dazu, und vielleicht zum Nachtisch ein Eis. Dann darf das Kind auch wieder seine Füße auf den Tisch legen.

Genug der Kritik des Hier und Jetzt.
Es ist Freitag, und das soll uns Belohnung genug sein  :-)

Einen schönen Start ins Wochenende

vonne Lily

Dienstag, 22. November 2011

Ein Mädchen wundermild



Aus der Zeit vor Facebook, in der man Freunde noch daran erkannte, dass man sie tatsächlich kannte, kennt die ein oder andere noch den Spruch von den Veilchen im Moose.
So wie sie sollte frau sein: Sittsam, bescheiden und rein, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.
Derart teils krude Gereimtes („Hinter Rosen und Narzissen hat ein kleiner Hund geschissen!“) teils unverhohlen braun gefärbt Imperatives („Sei gut! Sei edel! Sei deutsch!“) hat man uns per Poesiealbum mit auf den Weg gegeben. Ein Wunder, dass so viele von uns denken können und überhaupt in der Lage sind, unfallfrei gleichzeitig zu atmen und zu laufen.
Ab und an kamen Goethe & Schiller zu Wort, ich kann mich auch an einen falsch zitierten Nietzsche (der war nämlich ein Kant) erinnern. Es gab ein Löschblatt im Album (ich hab werweißwie lange keines mehr gesehen- gibt’s die noch?), und ein Linienblatt, damit man auf dem weißen Papier nicht allzu schräg lag. Glanzbilder wurden eingeklebt, mit oder ohne Glitter, der damals noch Gold- bzw. Silberstaub hieß.
Unerschrockene malten die dem Sinnspruch gegenüber liegende Seite mit irgendwelchen Bildchen aus, und es war nicht selbstverständlich, dass jede Mitschülerin das Buch von jeder Anderen zum Eintrag überreicht bekommen hätte. Nein, denn das Album war eine Sache, mit der man Zu- und Abneigung kenntlich machte. Wer etwa einen Jungen da hinein schreiben ließ, der war schon ein bisschen seltsam. Andersherum kriegten Jungs, die so was ausgehändigt bekamen, meist auch Stielaugen, weil sie da plötzlich gezwungen waren, sauber zu schreiben, und zwar etwas, was sich inhaltlich von „Günter ist doof“ unterschied. Die Jungs, mit denen ich zur Schule ging, hießen noch Günter. Und Klaus, Thomas, Jürgen, Clemens, Matthias, Frank, Jörg, und so weiter.
Der erste Kevin, von dem wir hörten, war Kevin Keegan, und das war ein Fußballspieler von einer der britischen Inseln.
Da ich 1969 (kurz nach dem Aufkommen der ersten Brontosaurier) eingeschult worden bin und das erst ein Jahr später beherrschte Schreiben definitiv die zum Führen eines Poesiealbums bestimmte Kulturtechnik ist, muss der ganze gesellschaftliche und geistige Schrott, der sich da ansammelte, tatsächlich bis weit in die Siebziger hinein noch Allgemeingut gewesen sein. In Berlin und den anderen Uni-Städten diskutierte man den dialektischen Materialismus, die APO warf Steine, die RAF warf Bomben und bei uns schrieb man, mit der Zunge zwischen den Zähnen „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“ und fügte ein verschämtes „Goethe“, sowie eine mehr oder minder geglückte Abschlussfloskel hinzu.
Das sah dann so aus, und damit verabschiede ich mich für heute

Dieses Sprüchlein, klein und fein, schrieb eure Freundin

Lily

Rein.

Donnerstag, 17. November 2011

Ich sammle...

neue Wörter.

1: Autsourcung
Ich habs laut vorlesen müssen, und dann musste ich immer noch lachen. Zu vermuten ist, dass die Erfinderin dieses Ausdrucks einen an der Waffel hat.

2: Wirklichkeitsberechnung
Gemeint war sowas wie Wirtschaftlichkeit, aber vielleicht auch Wirksamkeit? Keine  Ahnung, aber es macht sich gut in einer behördlichen Stellungnahme.
Diese Berechnung erinnert mich an meinen alten Video-Recorder: Der hatte eine Taste mit der Aufschrift "Reality Regenerator". Ich hab leider nie herausbekommen, was diese Taste konnte. An meienr Realität jedenfalls hat sich nie was geändert, wenn ich draufgedrückt habe.

Alles Liebe am Donnerstag,

Lily

Donnerstag, 10. November 2011

The benefit of public transportation- revisited.



Morgens in aller Herrgottsfrühe stehe ich mit ein paar anderen Schlaflosen an der Bushaltestelle und warte auf meine Verbindung um 6.26 Uhr.
Die Busfahrer sind noch relativ schweigsam, scheinen sich aber über ein „Guten Morgen“ zu freuen, also kriegen sie eins. Nach ein paar Wochen weiß man in etwa, wer an welcher Haltestelle zusteigt- um diese Uhrzeit ist der Fahrgast nur dann unterwegs, wenn er das wirklich muss.
Die junge Frau mit dem Kissen auf dem Kopf (mag sein, dass es kein Kissen ist, aber es sieht so aus. Vielleicht handelt es sich aber auch um einen Medizinball. Wer weiß das schon) steigt zwei Haltestellen nach mir ein und setzt sich stets mir gegenüber hin. Da die Höflichkeit verbietet, auf ihren seltsamen Kopfputz zu starren, bringt mich das jedes Mal in Verlegenheit. Die Lösung für dieses Dilemma ist, die Entspannung zu nutzen, die eine Busfahrt im Dunkeln bietet (sowie die Tatsache, dass noch keine Schüler an Bord sind) und so zu tun, als schliefe man noch, wenigstens oberflächlich. Ich schließe also die Augen, lasse die Gesichtsmuskeln erschlaffen und lehne den Kopf an die Scheibe.
Die Vibrationen des Dieselmotors und das Ruckeln beim Fahren über Unebenheiten schläfern tatsächlich ein bisschen ein. Ein wenig ist das so, als stecke man zur Gänze in so einem Massageanzug, der einen ordentlich durchschüttelt.
Im Bus ist es warm und dunkel, und wenn ich Glück habe, gibt es keine Ansage der nächsten Haltestelle, sondern nur eine Laufschrift über dem Durchgang zur Fahrerkabine.
Die Medizinballfrau hört Musik über ihr Handy, und obwohl reichlich Stoff ihre Ohren bedeckt, sind die Melodien als flaches Plärren für ihre Umgebung noch hörbar.
Warum setzt sie sich mir gegenüber hin?  Ich riskiere einen Blick, und finde mich, wie immer, fasziniert von dem Gewickel und Gewackel auf ihrem Schädel. Offenbar sind mehrere Schichten Stoff verarbeitet, was man an den unterschiedlichen Farben sehen kann, die in schmalen Streifen über der Stirn zu erkennen sind. Warum sie diesen unglaublichen Aufbau auch noch mit einem schwarzen Tuch mit silbernen Glitterschleifchen und –Streifchen geschmückt hat, bleibt ein Rätsel. Aber vielleicht möchte sie nur nicht frieren. Viele nicht sehr schmeichelhafte Bezeichnungen für dieses Kopfding fallen mir ein.
Ich erwische mich dabei, dass ich mich frage, wie lang man braucht, um morgens so einen Haufen Stoff um seinen Kopf zu wickeln, und welchen Teil von der Menge ihr Haar ausmacht. Vielleicht hat sie ja keines? Vielleicht versteckt sie tatsächlich ihr Kopfkissen in dem Aufbau, damit ihr kleiner Bruder es nicht dem Dackel gibt oder der Katze?
Der Rest von ihr ist unauffällig. Schwarze Jacke, schwarze Strümpfe, Ankle Boots, eine von diesen Taschen, die frau jetzt trägt, in denen man außer Handy und Portemonnaie noch einen Sextanten, ein Paar Duellpistolen und einen praktischen Rasenmäher verstauen kann.
Ihre Hände, ein wenig rundlich im Gegensatz zu ihrer sonstigen Erscheinung, halten die Tasche und das Musik spielende Handy. Die Fingernägel sind kurz und man kann noch Reste von Henna erkennen.
Die Hände sind die einer Achtjährigen.
Und auf einmal hab ich keine Lust mehr, über diesen Turban zu lästern.

Samstag, 5. November 2011

Das mit den Klammern funktioniert nicht...




Nichts anderes als ein paar spitze Klammern wären der Gloriosilität des heutigen Tages geschuldet, also kriegt er sie auch. (Anm. der Autorin: Spitze Klammern machen Text weg...) 
Jubilieret, triumphieret, denn es ist vollbracht- nach fast zwei Jahren bei mir ist mein Sohn gestern ausgezogen.
Als ich gestern nach einigen Stunden der Mithilfe komplett fertig und kaputt hier wieder aufgeschlagen bin, hätte ich gern ein kleines Tänzchen gewagt... zwei Sachen haben mich davon abgehalten. Das erste war oben zitierte Kaputtheit, das zweite die Tatsache, dass es keinen Platz gibt- denn meine Wohnung sieht aus wie die Lüneburger Heide nach dem Frühjahrsmanöver: Kein Ding steht mehr auf dem anderen. Bis auf den nun total sohnlosen Raum schräg gegenüber.

Paul der Kater zieht dort seine Kreise und singt seine Lieder von Einsamkeit und Hilflosigkeit sowie Desorientierung. Wenn man ihn ruft und ihn drauf aufmerksam macht, dass er weder allein noch ein Zweihundertgrammwelpe ohne Mama ist, sondern einer von Vieren, und zehn Kilo die nächste Schallmauer für sein breites Kreuz darstellen, dann kommt er angelaufen und ist ganz glücklich, dass man sich seiner erinnert. Er hört sich wirklich schrecklich an, da in dem leeren Raum... ich glaube aber, er genießt einfach das Echo.

Ich genieße bis dahin das Planen. Denn ich hatte ja nicht vor, den Status quo ante wieder herzustellen und in dem nun vakanten Raum erneut mein Bett aufzustellen. Das steht in dem kleinen, ehemaligen Arbeitszimmer ganz gut.

Nein, aus dem Raum wird das neue Wohnzimmer, dafür reichen nämlich die 14 Quadratmeter gut aus. Das große Zimmer wird ab sofort ein Arbeits-Mal-Näh-Trampolin-Raum. Mit Balkon, weil man den dafür braucht. Mein Schreibtisch wird hier stehen bleiben, auch wenn ich an dem weniger arbeite als vielmehr zocke, und ein ganzes Rudel Tische wird ihn ergänzen und demnächst Platz bieten für das Malen zum Beispiel.

Dass ich hier jedoch so halbwegs ruhig sitzen kann, liegt daran, dass ich dann doch zwei Tage Urlaub genommen habe, um die ganze Geschichte des Sohnauszugs ein bisschen begleiten zu können. Die Arbeit ist nämlich immer noch recht anstrengend, und dass ich die Wege dorthin mit dem Bus absolviere, verlängert die Abwesenheit etwas. Nicht viel, denn der Bus braucht genauso lange wie ich mit dem Auto gebraucht habe, aber etwas Wartezeit muss auch kalkuliert werden, sowie ein paar Meter Fußweg. Demzufolge bin ich nicht dazu gekommen, in den letzten Wochen mehr als unbedingt nötig in Hausarbeit zu investieren- zusammen mit dem Auszugchaos war das dann Anlass genug für zwei freie Tage.

Also, die Arbeit.
Die Arbeit ist komplett neu. Vor meinem Klinikaufenthalt war ich als Sachbearbeiterin bei einem Jugendamt beschäftigt (nicht an der Sozialarbeiterfront, sondern bei den Leuten, die den Eltern Geld dafür abnehmen, dass ihre Kinder in Einrichtungen und bei Pflegeeltern leben). Nach mehr als zwanzig Jahren hat mich da der Burnout erwischt- der und die Tatsache, dass Fallroutine, wie sie erforderlich war, absolut nicht mein Ding ist.
Der Einsatz nach der Klinik war zeitlich befristet, es ging um die Durchführung eines Projektes, bei dem von vornherein klar war, dass ich dort nicht bleibe. Als dann abzusehen war, dass die Arbeit sich ihrem Ende näherte, kam ich stellenmäßig wieder in die Verlosung, und hab dann das gezogen, was ich als Hauptgewinn bezeichnen würde. Zwischendurch hatte ich mich auf einen Job beworben, den ich dann nicht bekommen habe. Inzwischen glaube ich, dass das gut für mich war. Dieser andere Posten hätte mehr Einsatz an Wochenenden und an Abenden erfordert, als mein Freizeitbedürfnis wohl ausgehalten hätte. Ich wünsche der Kollegin dort ein herzhaftes „Ruhigen Dienst!“.
Nach den besagten Jahren an der Front der Fallarbeit hab ich also jetzt was vollkommen anderes. Es handelt sich um das, was man bei uns Querschnittsdienste oder auch zentrales Ressourcenmanagement nennt, im weitesten Sinne geht’s also um Hintergrunddienste in Bezug auf Organisation und so einen Kram. Das Fach Organisationslehre (damals noch mit dem Zusatz „und elektronisch gestützte Datenverarbeitung“) hab ich schon zu Zeiten meiner FH-Ausbildung gern gemacht, und mein Examen in dem Fach mit einer Eins geschrieben. Es ist verblüffend viel an Wissen hängen geblieben, trotzdem muss ich mich kräftig einlesen, aber es fällt mir leicht, weil es so angenehm ruhig ist dort. Die Kollegen sind alle eher still, so dass der übliche Hintergrundlärm aus den Büros nicht existiert. Dazu gibt es in unseren Büros so gut wie keine Kundenkontakte, die machen wir vor Ort, und anrufen tut uns auch keiner, denn man hat uns nicht sehr lieb. Zwei Jahrzehnte an der Bürgerschreckfront haben mich aber abgehärtet, und ich kann sehr gut damit leben, nicht jedermanns Lieblingstante vom Amt zu sein.
Derzeit herrscht eine Art Probeabschnitt. Wir schauen alle, ob wir miteinander auskommen- und wenn das so ist, dann bleib ich da. Ich erwische mich derzeit dabei, Ehrgeiz zu entwickeln, und meine Sache wirklich, wirklich gut machen zu wollen. Schau'n mer mal!


So. Jetzt muss ich mal an die Tagesplanung, damit hier alles seinen geregelten sozialistischen Gang gehen kann.

Liebe Grüße an euch alle, und ein schönes Wochenende
wünscht

DieLily