Samstag, 12. Januar 2008

Klassentreffen

Immer wieder gern Schauplatz von blutigen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit, wenn man der Kriminalliteratur (und vor allem verfilmten Stoffen) glauben darf- und doch schießt mir, sobald so eine Einladung im Briefkasten oder der Mailbox liegt, zuallererst der folgende Satz durch den Kopf:

Bis dahin musst du aber noch ----- Kilo abspecken (anstelle von ----- bitte beliebige, aber unrealistische Zahl einsetzen).

Fatal ist es, wenn die Einladung, wie inzwischen aufgrund der weiten Verstreutheit der früheren Klassenkameraden üblich, bereits Monate vor dem angedachten Terminrahmen eintrudelt. Das lässt einerseits tatsächlich zu, mithilfe von vermehrtem Sport und reduzierten Kalorien dem ein oder anderen Kilo zu Leibe zu rücken, andererseits liegt das so weit in der Zukunft, dass man nicht wirklich unter Druck gerät.

Und die so weit verbreitete Angewohnheit, alles bis zur Deadline aufzuschieben (auf Neudeutsch „Procrastination“ genannt) ergibt dann schlussendlich eine Quote von 2 Kilo pro Tag- da sind dann chirurgische Schritte nahe liegend (und im übrigen auch einzig Erfolg versprechend).

Ich sag doch, blutige Angelegenheit.

Auf jeden Fall naht irgendwann der Abend der Wahrheit. Kilos runter oder nicht, das spielt dann keine Rolle mehr.

In den oben zitierten Krimis trifft man spätestens im Foyer des für die Festivität ausgewählten Lokals dann auf

a) den Erzfeind/die Erzfeindin oder

b) den Klassen-Brad-Pitt, den man einst von Ferne angebetet hat oder

c) irgendjemand anderen, mit dem man ein Geheimnis teilt. Je düsterer das Geheimnis, desto besser.

Konsequenterweise muss dann irgendwer sterben.

Ebenso konsequenterweise muss dann der sich erhebende Verdacht auf einen selbst fallen (sonst kann einem das weitere Geschehen nämlich schlicht egal sein. Krimi zu Ende.).


Im wirklichen Leben trifft man hingegen auf eine Schulkameradin, die entweder in den letzten 25 Jahren niemals auch nur ein Kilo zugelegt hat (und demzufolge auch keines loszuwerden hatte), oder deren Vorsatz- Befolgungs- System einfach besser funktioniert. Zudem trägt sie das gleiche Kostüm, welches man selbst trägt. Drei Größen kleiner.

Von Feindschaft kann nicht die Rede sein, nur von ordinärer Konkurrenz, die durch 25 vergangene Jahre nicht leichter erträglich wird.

Demzufolge fällt sie auch nicht einfach tot um.

Stattdessen lächelt man süß-sauer, und begrüßt sie herzlich (oder so, dass es gerade noch als zivilisiert durchgeht).

Vollkommen frei von Verdacht und polizeilicher Verfolgung, betritt man den Ort des Geschehens. Und ist im Nu umringt von Menschen, die man noch nie im Leben gesehen hat. Da diese Menschen alle schon recht mittelalt aussehen, kann man unmöglich mit ihnen zur Schule gegangen sein.

Niemals.

Da muss eine Verwechslung vorliegen.

Das Kinn stolz erhoben (dann fällt auch dessen Verdoppelung nicht so auf, und durch den Leseteil der Zweistärkenbrille ist das Identifizieren des Gegenübers erheblich leichter) schlängelt man sich durch den Raum und versucht, einen Platz in der Ecke zu ergattern, aber da stehen schon welche.

In wirklich jeder Ecke stehen schon welche.

Das ist einerseits übel, weil man dann nicht selbst dort stehen kann. Andererseits ist das eigene Streben nach Rückendeckung inmitten feindlicher (oder jedenfalls potenziell feindlicher) Umgebung nicht mehr ganz so exotisch- es wird offenbar geteilt.


Man drapiert sich irgendwie um einen Stehtisch.

Und bestellt ein Bier.

Während man es trinkt, schaut man (unauffällig- selbstverständlich total unauffällig) über den Rand seiner Brille und hofft, dass das Doppelkinn auch in dieser Kopfhaltung nicht auffällt.

Die ganze Zeit fragt man sich, ob man sich genauso schlecht gehalten hat wie die Anderen. (Die richtige Antwort ist: Ja. Man hat.)

Irgendwann bringt ein schrilles Lachen die eigenen Trommelfelle auf höchst bekannte Weise zum Vibrieren, und man weiß, dass man wenigstens eine Person identifiziert hat.

Nach und nach lernt auch das Auge, sich zu erinnern, und die Umstehenden von hohen Stirnen, Bärten, Bäuchen, Kostümen und Dauerwellen zu befreien. Parkas treten an die Stelle der Lodenmäntel und Lederjacken, Jesuslatschen wachsen an Füßen, die Pumps tragen, und die halb verrottete Jeans ist wieder da, wo sie hingehört. Am Hintern von A., die besser keinen Ballonrock tragen sollte. Auch dann nicht, wenn er wieder modern ist. Es gibt Dinge, die sind unentschuldbar.


Man trifft Leute, die man kannte. Gut kannte, mit denen man von seinen Lieblings-Rockstars geschwärmt hat, Nächte durchgeredet oder Pausen hinter der Turnhalle verbracht hat, eine Kippe mit mehr oder minder verbotenem Inhalt zwischen sich. Warum hat der Kontakt nicht gehalten? Inzwischen sind sie nicht nur fremd, sie könnten sich in einem Paralleluniversum aufhalten, so weit entfernt sind sie.

Andere hat man zwischendurch mal gesehen, von ferne oder auch von nahem, und man ist ganz dankbar, dass nicht jedes Gespräch mit „Und, was machst du so?“ beginnt.

Ein paar Leute sind so ehrlich, dich mit „Und, wer bist du?“ anzusprechen.


Die merkwürdigsten Freundschaften scheinen sich gebildet zu haben, da sind Menschen, die sich früher mit dem Arsch nicht angeschaut haben, plötzlich Nachbarn oder Arbeitskollegen geworden, und sie vertragen sich gut.

Da steht ein alter Schwarm herum und schaut verloren- was fand man eigentlich an dem oder der? Sie (oder er) hat immer so selbstbewusst gewirkt, und so über-den-Dingen-stehend. Irgendwas ist bestimmt passiert, dass er oder sie so -ja, geschlagen und besiegt aussieht.

Ein paar Leute, früher unauffällige Mitläufer, scheinen Karriere gemacht zu haben, zumindest sehen sie so aus, mit ihrer verbindlichen Ausstrahlung und modischen Aufmachung. Sie sind extra aus Mailand, Seattle oder Wellington eingeflogen.


Man setzt sich zum Essen, und immer noch ist kein Hauch von Mord in der Luft, kein Polizeieinsatz droht.

Zivilisierte Gespräche sind an der Tagesordnung, und an einigen Tischen sieht man altbekannte Gruppen sich neu formieren. Ein häufiges Thema sind Kinder- und es gibt die, die hierzu eisern schweigen.

Bei den Männern scheinen sich Berufsgruppen gefunden zu haben. Hier die Techniker, da die Geisteswissenschaftler. Die Mediziner. Die Lehrer.

Von den Gesichtern fallen Jahre ab, und man fragt sich, ob man selbst auch so hinter Masken verborgen ist- und was nötig ist, um wieder anknüpfen zu können an ein früheres Selbst. Ein früheres Ich, unterstützt von ein wenig mehr Lebenserfahrung und Selbstbewusstsein, sowie ein paar anscheinend unverzichtbaren sozialen Fähigkeiten. Wie zum Beispiel der, mit jemandem zu reden, dessen Gesicht man kennt, aber mit dem man in neun oder zehn Schuljahren kein einziges Wort gewechselt hat. Eigentlich ganz nett, der- oder diejenige- warum hat man sich früher nichts zu sagen gehabt?


Irgendein Typ ist Polizist geworden, und einen kurzen Moment streift einen die Idee, wie es wäre, wenn diese aufgetakelte Tussi schräg gegenüber (jep, die gleiche wie vor 25 Jahren) plötzlich mit der Nase im Frikassee liegen würde. Natürlich liegt sie nicht, sondern sitzt weiterhin und unterhält mit silberheller Stimme die Tischgemeinschaft, indem sie von ihrem letzten Einkaufsbummel in Düsseldorf erzählt- „...so provinziell, meine Liebe...“

Ist die faltenfreie Stirn auf Botox zurückzuführen, oder darauf, dass sie einfach niemals nachdenklich dieselbe kraust?

Mit einem Glas bewaffnet geht’s zurück an den Stehtisch, an dem sich die alte Liebe festhält. Jetzt bloß nicht fragen, was er macht- das ist langweilig. Und uncool. Und vielleicht auch nicht sehr klug, schließlich sieht er/sie nicht besonders glücklich aus...

Die alte Liebe lächelt, und man fühlt sich wieder jung. Das Gespräch wird intensiv, und die alte Verbundenheit ist schnell wieder da, ohne die Unsicherheiten und Vorbehalte, die einen früher hemmten. Die Anderen treten in den Hintergrund und bald wechselt ihr an den Tisch in der Ecke, jeder mit seinem Bier vor sich. Es wird spät und später. Die Ersten gehen, verabschieden sich unter Gelächter und dem Austausch von Email-Adressen.

Ihr sitzt und redet.

Und redet.

Irgendwann kommt die Kellnerin, und ihr registriert, dass außer euch nur noch drei andere Leute da sind.

Geht man noch woanders hin?

Nein.

Man verabschiedet sich. Mit Bedauern, aber das tut man.

Tauscht man Mailadressen aus?

Vielleicht.

Bleibt man in Kontakt?

Vielleicht. In einem Paralleluniversum.





__________________________________________________
Selbstverständlich alles reine Fiktion- wie immer :-)
Gruß und schönen Samstag noch,

Lily

Keine Kommentare: