Mittwoch, 17. Februar 2010

Ohne Titel

Na, sagte sie, das wird was werden, und legte skeptisch den Kopf schief.
Jacki biss die Zähne zusammen und schob vorsichtig einen Fuß auf die Stange. Es war unerlässlich, dass er die zwei Meter lange Strecke überstand, damit sie ihn in die Bande aufnahm.
Ohne Bande war er ein Nichts, weniger als ein Nichts, mehr ein- Minus. Keiner nahm ihn ernst. Letztens hatte Peter von Haus 13 ihn kurzerhand in dem Kellerloch eingesperrt, in dem der Hausmeister sein Putzzeug aufbewahrte. Herr Meltowski hatte ihm noch eins hinter die Ohren gegeben, als er ihn dort fand, und Jacki war, verheult und vollgepinkelt, drei Stunden zu spät nach Hause gekommen. Seine Mutter hatte ihm auch noch eine verpasst, weil er zu spät war, um noch einkaufen gehen zu können und sie an dem Abend nicht rechtzeitig zur Arbeit kam.
Da hatte Jacki beschlossen, dass sich was ändern musste.
Für Melanies Bande musste man auf der Stange balancieren können und vom Dach von Haus 8 springen. Die Stange war eigentlich für Teppiche vorgesehen, und Jacki wunderte sich manchmal, dass die Erwachsenen nichts dagegen hatten, dass Melanie und ihre Bande auf der Stange kletterten und turnten. Aber vielleicht, so überlegte Jacki, lag das ganz einfach daran, dass kein Mensch mehr Teppiche über die Stange legte. Warum sollte man das auch tun.
Und so stand er nun auf dem Dach des Werkzeugschuppens und schob einen Fuß auf die Stange, ein ehemals grün lackiertes Rohr von sechs oder sieben Zentimetern Durchmesser.
Die zwei Meter, die waren ein Urlaub gegen den Sprung über die Köddelbecke. Das waren einsachtzig von Betonschräge zu Betonschräge, oft genug glitschig von der Scheiße und der Pisse, die in der Becke herum schwammen, und nicht nur einer von den Jungs war abgerutscht und volle Breitseite in der Plörre gelandet.
Über die Becke springen, das musste man, wenn man zu Klaas’ Bande gehören wollte. Klaas kam von irgend so einer Insel, in der Karibik, und er hatte immer zwei Leute um sich herum, die alle Anderen dran erinnerten, dass Klaas mit den Mächten der Finsternis verbunden war. „Mit den Mächten der Finsternis im Bunde“, das stand auch auf der Jacke von Klaas, sagte er. Klaas sprach sonst nicht so geschwollen, also glaubte Jacki ihm vorsichtshalber mal, dass die komischen Zeichen auf dem Rücken der Jacke so etwas bedeuteten. Besser einmal feige sein als sich mit den Falschen anlegen.
Von irgendwo kam ein Geruch von frisch gebackenem Brot, und Jacki lief das Wasser im Mund zusammen. Abendbrotzeit, und die Sonne stand schon schräg hinter dem Aldi-Markt.
Die Stange sah von oben viel schmaler aus als von unten. Und die Lackreste glänzten rutschig.
„Nun mach schon!“ Melanie trat von einem Fuß auf den anderen und machte eine Kaugummiblase. Die Dachpappe auf dem Schuppen war am Rand mit Bitumenmasse abgedichtet, die schwarz in der Sonne glänzte. Melanies Chucks hinterließen ein Muster in der glatten Fläche.
Der Sprung von Haus 8 war ein Kinderspiel gewesen. Einfach fallen lassen, und gut. Klar, heil unten ankommen war von Vorteil. Aber das hier war was ganz anderes- hier konnte man umdrehen und auf das sichere Dach zurück kehren- theoretisch. Wenn er nur den Mut aufbrächte.
Gestern hatte es doch geklappt, Mann. Einen Fuß vor den anderen setzen, vorwärts, und schnell, aber ohne zu rennen, über die Stange. Ganz einfach.
Ganz einfach.
Einmal war seiner Mutter beim Tapezieren der Eimer umgekippt, und er war durch den Kleisterflatschen gelaufen, bevor sie ihn daran hindern konnte. Sein linker Fuß schien auch jetzt vom Schuppendach festgehalten zu werden, wie damals vom Kleister, und er ruckte einmal kräftig, dann gab der Bitumen nach und seinen Schuh frei.
Im Fall versuchte er noch, nach der Stange zu greifen, aber seine Finger waren zu nass, nass vom Schweiß, und einen kurzen Moment hatte er noch, um sich zu wünschen, dass jetzt sofort die Köddelbecke auf ihn wartete- und nicht die Betonfläche, auf der er schon aufprallte, bevor der Gedanke beendet war.

12 Kommentare:

Frau Vau hat gesagt…

Wow.... sprachlos!

Svenja-and-the-City hat gesagt…

Eine ungewöhnliche Kurzgeschichte. Sehr spannend erzählt und das Ende trifft hart und unerwartet.

Womble hat gesagt…

Toll....wirklich und ehrlich toll!
Wenn du mehr schreibst, werde ich mehr lesen :)

Bea W. hat gesagt…

Und vorher? Und nachher? Das liest sich wie ein Klappentext. Du hast ne tolle Schreibe!
Ich habe in grauer Vorzeit mal ein Kinder- und Jugendbuch geschrieben. Als ich gerade Deine Geschichte las, fing es an, in den Fingern zu kribbeln. Danke dafür. :-)

Georg hat gesagt…

Kopfkino der Kindheit...
Danke

Pauls-wunderwords hat gesagt…

"ich wollte es grade tun
da schlug ich auf." -Mike Krüger-

War Georg das, der hingefallen ist? :)

Na, zum Glück lebt er noch!!!

Wortbestätigung: paulli (lustig, oder?)

Lily hat gesagt…

Also:Ein Disclaimer, des Inhalts, dass das nur teilweise fiktiv ist, aber eben teilweise doch, hätte vermutlich dazugehört. Und es war NICHT Georg, der gefallen ist. Ich kann mich an einen Matthias erinnern, der Kopf voran aus dem Baum gefallen ist wie eine Pflaume, und an den dicken Klaus, der beinahe mit dem Hinterteil die Köddelbecke gestaut hätte, über die ich nie gesprungen bin.
Die richtige Mutprobe war, am betonierten Rand der K. entlang unter der Straße herzulaufen. Gerüchten zufolge tanzten die Ratten dort am hellichten Tag ihre Rattentänze. Jedenfalls tanzten sie zuviel für mich:-)Aber auch ich bin mutprobehalber von Dächern gesprungen, hab Klingelmännchen gemacht, bin mit über dem Kopf baumelndem Faltenrock mit den Kniekehlen an der Teppichstange geschaukelt, wenn auch nicht besonders gerne, denn das zwiebelte ganz schön an dem weichen Fleisch da. Was ich nie gekonnt habe, war auf einer Stange balancieren. Meine beste Freundin ist mal abgerutscht von sowas und fies und krankenhauspflichtig gestürzt. Das war Abschreckung genug.

Pauls-wunderwords hat gesagt…

Könnten Sie sich nicht noch ein einziges Mal für mich einen Faltenrock anziehen und kopfüber auf einer Teppichstange baumeln, Frau Lily?

Bitte!!!

:)

Lily hat gesagt…

Glauben Sie es mir, werter Herr Paul, wem die Götter sehr, sehr abhold sind, dem erfüllen sie die Wünsche. Und solche zuerst- wenn du Augenkrebs kriegen willst, dann wünsch weiter :-)

Meise hat gesagt…

Tolle Geschichte.

Georg hat gesagt…

@ Paul: Nee, soo doof war ich damals nicht. (Ich hab mich nicht getraut. Wir haben uns ein Seil um die Hüfte gebunden zur Sicherung. Zum Glück brauchten wir selbige nie. Ich denke das wäre verheerend gewesen.


Der Matthias ist aus dem Baum mit dem Kopf voran auf eine solche Stange gefallen. Da habe ich das erste mal erfahren, das der Schädel eines Menschen brechen kann.
Wir hatten diese Art Mutprobe auch. Nur war das keine Metallstange sondern ein hockannt stehendes Brett zwischen zwei Betonsäulen in zwei Metern Höhe. Da sind wir dann von der Garage aus drüber.

Das Problem mit dem Überspringen der Becke lag in dem fehlenden Anlauf. Der einzige der es von uns geschafft hat, war der Junge aus dem Nachbarhaus. Aber nur mit großer Not.

Super Geschichte.

Falcon hat gesagt…

Irgendwie hatte ich gerade Hannes vor Augen, wie er auf das Dach der alten Ziegelei klettert - ich glaub, für solche Mutproben war es bei uns einfach zu dörflich. Das Extremste war, kurz vor Einbruch der Dämmerung an eine Stelle im Wald zu gehen, an der vor vielen jahren ein Wanderer von zwei Räubern erschlagen worden war.
Ich hoffe, der Sturz ging glimpflich aus - eine Teppichstange ist ja nicht ganz so hoch. Aber Beton kann schon verdammt hart sein.