Montag, 30. August 2010

...ich liebe es.


Ich find es unglaublich praktisch, wenn man von den Leuten, deren Webshops man besucht hat, Passwort und Kennung noch mal per Mail übersandt bekommt. Total praktisch ist aber diese datenschützerische Maskierung meines Passworts, von dem ich euch nur verraten kann, dass es KEINE Reihe Sternchen ist.
Manchmal fragt man sich, wo die Leute ihr Hirn aufbewahren. Ganz normal an Ort und Stelle kann es echt nicht sein.

Meint
Die Lily

Samstag, 28. August 2010

Kein Titel, da mir keiner einfällt.


Der erste vollständig hier verbrachte Tag seit beinahe einem Vierteljahr ist vorüber.
Die Bilanz ist durchmischt, ich fühl mich einsam ohne meine Menschen, die mich für so lange Zeit begleitet haben. Auch die anderen fehlen, die neuen Mitpatienten, die, mit denen man nur ein „Guten Morgen“ oder ein „Du hast da eine Mücke auf dem Rücken!“ austauscht. Nähe zu anderen, lebendigen Menschen zu akzeptieren ist mir sehr lange sehr schwer gefallen, der Krankenhausaufenthalt hat das sehr einfach gemacht- man war einfach immer in Gesellschaft. Durch die therapeutischen Angebote war man diesen Menschen nicht nur räumlich nahe (soweit man das ertragen kann- aber direkter physischer Kontakt blieb ausdrücklicher Nachfrage und eindeutiger Antwort vorbehalten), sondern man nahm in ungewöhnlichem Ausmaß auch am emotionalen Leben der Anderen teil.
Es hat mich überrascht, dass ich das so gut aushalten konnte. Meine übliche Reaktion auf nahekommende Menschen ist entweder, sie wegzubeißen oder sie zu bemuttern- wer diese Schwelle überschreiten kann, hat schon gewonnen :-)
Dass das Thema Nähe und Distanz ein problematisches ist, war vermutlich meinen Therapeuten sehr schnell klar, denn als jemand, der sich in seiner Haut nicht wohl und zu Hause fühlt, kann man es erst recht schlecht haben, das Risiko einzugehen, dass jemand anderes in den lauten inneren Beschimpfungschor einstimmen könnte.
Bemuttern ist da eine prima Sache, um sich manchen Themen in Beziehungen mit Anderen nicht stellen zu müssen. Man legt seine Rolle fest, und voilà.
Mütter stehen als solche unter dem Generalverdacht der Unangreifbarkeit, die Meisten haben eine, und auch wenn die Beziehung zu der eigenen Mutter schlecht ist, so können doch ganz viele Leute es gut ertragen, wenn sich jemand liebevoll kümmert. Meine ziemlich kluge Bezugstherapeutin hat das ganz am Rande angesprochen, als zwei Gruppenmitglieder abreisten und außer mir mit meinen 47 Jahren nur noch sehr junge Menschen zwischen 18 und 26 in der Gruppe waren. Ich kann nicht leugnen, dass mir alle diese jungen Frauen ein bisschen Ersatztöchter waren- aber ich habe mich bemüht, das erst rauszulassen, wenn wir nicht mehr im Stuhlkreis saßen. Vor allen Dingen hatte die Therapeutin Sorge, dass ich nicht gut „loslassen“ könne, wenn so viel Jüngere um mich herum säßen. Das hab ich aber hingekriegt, zum Glück.
Mir selbst eine fürsorgliche Mutter zu sein, ist mir weniger gut gelungen, bisher jedenfalls.
Um das irgendwann zu erreichen, war eine Hauptintention der Therapie, meinen Widerstand gegen Strukturen im Leben zu überwinden. Da ein guter Anteil meiner Depressionen biologisch bedingt, also erblich begünstigt ist, können Strukturen sehr dabei helfen, auf Dauer die Depressionen einzudämmen, mitsamt Psychopharmaka und ambulanter Therapie. Strukturen können auch einen Teil des Aufwands reduzieren, den das „gute Kümmern“ benötigt, und in Zeiten, in denen man auf der Dunklen Seite steht, können sie vielleicht eine Basisversorgung sichern.
Von letzterem bin ich noch nicht so ganz überzeugt, ich weiß, wie schnell mir mein Leben aus den Fingern rutschen kann. Immerhin aber hat die in Pröbsting gepflegte und betonte Struktur mir aus der schweren in die mittelschwere Depression geholfen.
Rückblickend kann ich die Anfänge der Erkrankung auf eine Zeit vor mehr als 20 Jahren datieren- leider wusste ich damals nicht, dass es nicht normal ist, ganze Samstage trübe im Dunkeln und weinend im Bett zu verbringen.
Ich hätte mir und meiner Umwelt einiges ersparen können, hätte ich damals schon...
aber vorbei ist vorbei, and there's no use crying over spilt milk.
Eins aber hab ich gelernt, und ich hoffe, es nie zu vergessen:
Es kann Erlebnisse im eigenen Leben geben, schwer belastende Episoden, Zeiten, in denen uns wichtige Dinge nicht zur Verfügung stehen, und es können die eigenen Eltern sein, die dafür die Verantwortung tragen. In aller Regel haben diese das Beste geleistet, was von ihnen zu leisten war. Wir lieben sie meist- selbst die Eltern, die sich strafbar gemacht haben mit dem, was sie uns angetan haben. Oft genug bleibt da ein gefühltes Dilemma.
Es ist jedoch möglich, trotzdem festzustellen, dass Teile von uns, vielleicht irreparabel, geschädigt sind. Diese Feststellung kann und darf Zorn, Trauer, Kummer und Wut hervorrufen. Einfach deshalb, weil es scheiße gelaufen ist, weil wir mehr -oder anderes- gebraucht hätten. Es ist richtig, darüber nachzudenken, darüber zu weinen und zu klagen. Es ist richtig, darüber zu trauern, dass manche Dinge sich nicht entfalten durften. Erst wenn man sich das zugesteht, kann man einen Blick auf das unvermeidliche Ergebnis tun: Dass das Heute heute ist- und was früher war, ein für alle Mal vorbei.
Manche Dinge können nicht wieder gutgemacht werden.
Aber es ist auch wichtig, zu erkennen, dass nicht nur wir die Geschädigten sind, sondern dass auch unsere Eltern bereits ihr Päckchen zu tragen hatten. Sofern sie nicht wirklich kriminell gehandelt haben, sind wir erst die Glücklichen, denen Hilfe zuteil wird, die klar genug sehen, um sich nicht in Somatisierungen flüchten zu müssen, die dagegen ankämpfen, eine Plage für sich und andere zu sein, die Klarheit über sich gewinnen wollen.
Insgesamt läuft es darauf hinaus, zu trauern, zu verzeihen und zu fühlen, was in uns selbst geschieht.
Oder, wie meine unvergleichliche Musiktherapeutin immer so schön sagt: Leiden können. Auch sich selbst.

Ein bisschen wehmütige Grüße an alle, die jetzt so weit weg sind- Schlaft gut und sorgt für euch.


Sagt
die Lily.

Seid Ihr auch alle da?


Ich bin es jedenfalls: Zu HAUSE. Seit gestern Nachmittag, 15.00, ist mein gewöhnlicher Aufenthalt wieder in meinen eigenen vier Wänden.
Bilanz der knapp 12 Wochen:
24 Stunden Einzeltherapie
24 Stunden Psychotherapiegruppe
36 Stunden Kunsttherapie
36 Stunden Ergotherapie
18 Stunden Musiktherapie
12 Stunden Musik-Einzeltherapie
12 Stunden Wassergymnastik
18 Stunden Bewegungstherapie
12 Stunden Essstrukturgruppe
18 Stunden Tanztherapie
40 Stunden Aquajogging
40 Stunden Laufen-um-den-See
12 Stunden Gruppentraining Soziale Kompetenz...
und noch vieles mehr.
Ich habe:
52 Bilder gemalt
1200 Fotos gemacht
360 Mahlzeiten eingenommen
Ungezählte Liter Mineralwasser, Kaffee und Tee konsumiert
Einen Haufen Tabletten geschluckt und gelutscht
Viel gelernt, viel geweint und viel geredet
Ein paar Talente abgestaubt bzw. entdeckt
Freundschaften geschlossen, auch mit schwierigen Menschen
An Wände geschlagen, Leute mit Poolnudeln geprügelt (hallo Barb! Kreisch doch noch mal so schön!)
Zweimal Eis gegessen
Mich an Naturjoghurt und an Frühstück gewöhnt
Ein paar Nordic-Walking-Poles gekauft und benutzt
11 Kilo abgenommen
An Sportlichkeit zugenommen
Und eine wunderbare Künstlerin kennen und schätzen gelernt:
Elena.
Macht euch selbst ein Bild von ihren Bildern: Hier.
Auf den ersten Blick einfach wunderbare, bunte Bilder, mit Comicgestalten und Teddybären, mit kindlicher Farb- und Formgebung angefüllte kleine Universen.
Aber beim zweiten Blick sarkastische Kommentare zur Lebenswirklichkeit von Menschen heutzutage, mit besonderem Augenmerk auf die eher alptraumhaften Dinge, die eine Kindheit so bergen kann.
Elena hat mit mir zusammen einen (viel zu kurzen) Teil der Zeit in der Herberge zum lockeren Schräubchen verbracht, und wir haben endlose Stunden zusammen auf ihrer Terrasse gesessen und gemalt, geredet, geraucht und geschwiegen. Die Primaklinik, in der wir waren, ermöglicht es den Menschen, ihre Tiere nicht allein zu Haus lassen zu müssen, und so hat Elena ihre Katze Katzi mitgebracht, die wir schon mal an der Leine spazieren führten. An der Leine, weil Katzi gegenüber den ebenfalls anwesenden Patientenhunden sowie den Schlosskatzen gerne mal das zeigte, was man so Teufelsohren nennt.
Katzi ist auf (beinahe?) allen Bildern Elenas vorhanden, als guter Schutzgeist und naiver Betrachter gleichermaßen.Ich habe viel Spaß gehabt, als ich die Bilder fotografieren durfte- und dabei wieder viele Einzelheiten entdeckt, die ich bis dahin nicht bemerkt hatte.
Elena und ich waren, zusammen mit vielen, vielen anderen Menschen eine Weile zu Gast in der Schlossklinik Pröbsting in Borken. Dort kann man erleben, was eine gut organisierte Klinik mit einem hervorragenden Betreuungsschlüssel ausrichten kann, wenn die Beschäftigten, die Therapeuten, Ärzte und das Pflegepersonal, die Haustechniker, das Servicepersonal im Restaurant und die Reinigungskräfte alle an einem Strang ziehen. Jeder, der mir dort begegnet ist, kannte mich am zweiten Tag mit Namen, wusste, warum ich da war und was ich zum Mittagessen bestellt hatte, hatte Geduld mit meinen Macken und sich über jede Errungenschaft mit mir gefreut. Und wenn das alles Schauspiel war, dann war das gutes Schauspiel!
Ein wirklicher Trost ist das, was mir zum Abschluss gesagt wurde:
Wenn es zu hart wird draußen, wenn sich erneut der Abgrund der Depression öffnet, kann ich jederzeit wiederkommen. Und das ist gut so.
Liebe Leute, die ihr mir die Stange gehalten habt:
Freut euch mit mir, ich bin zu Hause.

Liebe Grüße, und ein schönes Wochenende,

die Lily







Samstag, 14. August 2010

Notizen aus der psychiatrischen Provinz:




Ich will jetzt sitzend gegen den Strom schwimmen!
( B.H. aus B. zu mir, als sie auf der Poolnudel Richtung Gegenstromanlage steuerte)

Wasch dir die Füße, dann rutscht vielleicht der Dreck aus den Ohren nach!
( A.H. aus E., als ich sie beim Frühstück zuerst nicht verstanden hatte).

Der Monat ist fast zur Hälfte herum, und ich hab noch immer ein Ticket für die Psychiatrie. Ende August werde ich ausgewildert, wenn alles so läuft, wie es soll. Dann sind fast drei Monate um, viel mehr Zeit, als ich zunächst erwartet hätte, aber diese ist blitzartig schnell vorbei gegangen. Das lag zur einen Hälfte am tough durchgeplanten Tagesablauf, der oft nicht viel Zeit ließ, auf dem ziemlich weitläufigen Klinikgelände vom Einzel zur Wassergymnastik und von dort in den Kunstraum I zu kommen- und die drei Etagen Höhenunterschied lasse ich dabei ebenso aus wie den schwierigen Versuch, nach dem Schwimmen so weit trocken zu werden, dass man in seine Klamotten kommt, ohne sich auf die Nase zu legen. Aus unerfindlichen Gründen scheint Chlorwasser besonders schlecht durch Handtücher entfernbar zu sein. Oder liegt das daran, dass man nach dem Schwimmen im auf Badewassertemperatur erhitzten Pool (35 °C. Fünfunddreißig Grad. Celsius.) schwitzt wie ein Elch?
Egal.
Die andere Hälfte der relativen Zeitbeschleunigung haben meine Mitpatienten verursacht, die eigentlich immer da sind, außer wenn ich schlafe. Die merkwürdigsten Gestalten (unter denen sich auch euer aller Lily befindet) freunden sich miteinander an, und die Spontantreffen unter Sonnenschirmen, in Wintergärten, Ergo-Werkstätten oder Teeküche, Raucherraum oder Fernsehzimmer, Schwimmbad oder Seminarraum sind das Tüpfelchen auf dem I. 38 Patientenplätzen stehen knapp 60 Angestellte gegenüber- teilweise sind wir in den Gruppen nur zu dritt. Jede Person hat ihren Charme, ihre Geschichte, ihre Schönheiten, und ich bin ausgesprochen dankbar, sie alle kennen gelernt zu haben. Dabei ist eine Malerin, deren Bilder ich im nächsten Post mal ein bisschen vorstellen will, eine begnadete Textilkünstlerin und Menschen aus ganz anderen, ebenso interessanten Berufen, die jedoch nicht so sehr in der Öffentlichkeit stehen.
Von ihnen hab ich viel gelernt- daher hier mein Dank an

Elena, für das Abguckenlassen und die ästhetischen Highlights, sowie deine kluge und liebenswerte Art, zu lachen und zu leben, und für die Bekanntschaft mit Katzi
Alex, deren Fröhlichkeit und Warmherzigkeit immer noch fehlen,
Barbara, die so herrlich kreischen kann und mit der ich schon so unglaublich alberne Gespräche geführt habe, du hast mir gezeigt, dass man cool und warm zugleich sein kann.
Anne, die, die immer wieder aufsteht- dich bewundere ich, aber nicht kritiklos :-)
Anja- denk ab und zu an rosa Elefanten! Du schaffst es, meine Liebe!
Malou- halt die Ohren steif, das Leben wird klasse werden.
Antje- ich hoffe, ich sehe dich bald.
Margit: I'll never forget the sign of the flying asshole. Du rockst, meine Liebe.
Gaby, für Wärme, Zuneigung und den trockensten Humor am See.
Marita, für eine mörderische Lache,
Marianne, eine der weichherzigsten Frauen, die ich je kennen gelernt habe,
Regina, eine begnadete Aqua-Joggerin und Mit-Singstar-Gewinnerin, der ich Kickboxen als Lieblingsübung unter Wasser verdanke :-)
Dirk, für seinen Humor und die stete Arbeit an der Erlösung,
Dietmar, für sein mutiges Ansprechen der Neuen, und für die guten, langen Gespräche.
Einige der hier nicht Genannten sind nur kurz gemeinsam mit mir hier gewesen, und ihr Name ist mir nicht so deutlich in Erinnerung geblieben wie ihre Gesichter und ihre Geschichten. Aber auch die sind wichtig. Vielleicht schreibe ich ja mal einen Psychiatrie-Krimi, da kommen sie dann alle drin vor. Plus Ärzten und Therapeuten.
Ihr alle solltet immer dran denken: Sonne macht albern. Aber Tabletten auch :-)

Aber am meisten von allen verdanke ich meinem besten Freund S., für unentwegtes Da-Sein, für das Zurückziehen von der mentalen Bahnsteigkante, für endlose Gespräche zur Seelenrettung- ohne dich wäre ich schon tot, mein Lieber!
Auch Sandra und Gianna, die sich meine endlosen Irrwege bis hierher angetan haben: Ich danke euch, ihr seid echte Freundinnen.
Mein Bruder Georg, der sich unermüdlich die mehr als 200 km antat, um seine Schwester in der Klapse zu besuchen: Ich wünsch dir und S viel, viel Glück :-)
Der jedoch, ohne dessen Mitwirkungsbereitschaft ich niemals hierher hätte kommen können, fehlt noch: Mein Sohn T., der sich um die Katzen kümmert und meinen verlotterten Haushalt führt, so lange ich das nicht kann.

Vielen vielen Dank, euch allen.
Ich kanns nie wieder gut machen.

Lily

Sonntag, 1. August 2010

Immer diese Lebenszeichen.

Hallo und guten Morgen, zusammen,

ich danke euch allen für die lieben Kommentare- schön, dass ihr noch vorbei kommt und lest. Ich finde es zur Zeit schwer genug, etwas zu schreiben, und da ist es besonders gut, wenn man darauf eine Reaktion erhält.
Dass ich so kurz nach dem letzten Posting schon wieder etwas einstelle, liegt am sogenannten Belastungsurlaub- ich bin zu Hause, bis heut mittag. Urlaub bis zum Wecken, sozusagen. Und hier zu Hause ist das Internet irgendwie doch recht viel fixer.
Der Belastungsurlaub trägt seinen Namen zu Recht. Eines der Hauptprobleme, an denen ich derzeit arbeite, ist meine mangelnde Strukturbereitschaft, also die enormen Schwierigkeiten, die ich habe, eine gewisse, für meine diversen Gebrechen überlebensnotwendige Regelmäßigkeit in meinen Alltag zu bekommen, ohne dass das aufgesetzt oder übermäßig durchgeplant oder purer Zwang ist. Da ist allein die Aussicht auf ein Wochenende, bei dem ich allein dafür sorgen muss, dass ich regelmäßig zu Essen bekomme, ein Schauerstück. Zu Beginn des Klinikaufenthaltes bekam ich erstmal einen Essplan, an den ich mich halten musste. Schließlich bin ich nicht nur wegen Depressionen und Burnout, sondern auch wegen des Binge-Eatings da. Ich war zu der Zeit gewohnt, am Tag entweder gar nichts zu essen (abgesehen von vielleicht einem Joghurt abends) oder wie die Gestörte, die ich da bin, Haufen von Zeugs in mich reinzustopfen, bis nichts mehr ging- doll sowohl für das Gewicht als auch für den Diabetes. Die haben sich auch folgerichtig bedankt bei mir und ein paar Probleme zusätzlich verursacht, nämlich mich auf mein beinahe-all-time-high von Kilos hoch gebracht und den Blutzucker unvorhersehbar. Meine erste Reaktion war Panik- vier Mal am Tag essen? Wie soll ich das Binge-Eating denn damit in den Griff kriegen? Ich hab mit zusammenbrechenden Waagen einerseits und mit durchgehungerten Nächten andererseits gerechnet, denn hier zu Hause hab ich abends ab acht das erste Mal gegessen. Und nun, mir, der eingefleischten Nicht-Frühstückerin, um acht Uhr morgens erst den Kaffee und einen Naturjoghurt mit Leinsamen aufzudrängen, und abends um sechs das letzte zu Essen? Hilfe.
Jedoch hat mich die erste Woche schon beruhigt- die Waage am Montag morgen zeigte anderthalb Kilo weniger.
Inzwischen sind es fast sieben. Ich esse viermal am Tag moderate Mengen, bewege mich allein schon deshalb, um von Therapie zu Therapie zu kommen, und gehe täglich eine Stunde schwimmen. Morgens gehen eine besonders geliebte Mitpatientin und ich um den See, und alles das zusammen hat nicht nur zu weichenden Kilos geführt, sondern auch, oh Wunder, zu einem Zuwachs an Muskeln, den ich bisher noch nicht hatte.
Die Woche sieht demnach 7 Gänge à 2,5 km, 7 Stunden Schwimmen, drei Mal Tai Chi, drei Mal Wirbelsäulengymnastik und einmal Wassergymnastik vor, akzentuiert durch die mörderischen Treppen im Haus, die, da alt, keiner modernen Stufenhöhe frönen.
Das Essen selbst kann man nur köstlich nennen, und ich habe mich inzwischen sogar mit dem Joghurt angefreundet (sechs Esslöffel Magerjoghurt, drei TL Leinsamen, 1 TL Sesam, 1EL Honig- schmeckt supergut), sowie mit dem Salatbuffet mittags und abends. Gestern mittag hat mir der Salat gefehlt, ich hab einfach vergessen, mir einen zu machen, dafür hab ich das am Abend wieder gut gemacht.
Mein Speiseplan in der Klinik ist Gegenstand einer moderat geführten Diskussion, ich neige dazu, Teile auszulassen (das sind -tatsächlich- anorektische Verhaltensweisen bei mir, und auch reiner Trotz), das lässt man aber nicht zu. Merkwürdig ist jedoch, dass ich immer noch kein Hungergefühl habe, und das nach acht Wochen regelmäßigster Nahrungsaufnahme.
Meine teils anorektischen, teils bulimischen Mitpatienten sind essentechnisch kein bisschen mehr gestört als ich, und es ist immer noch verwunderlich, dass sich neunzehn- und zwanzigjährige junge Frauen und die ich in manchen Dingen so entsetzlich ähnlich sind.
Die Depressionen, die im Endeffekt zusammen mit dem Burnout dazu geführt haben, dass das Leben hier unerträglich wurde, sind immer noch da. Ich lerne, damit umzugehen, und langsam einzusehen, dass ich auch angenehme Dinge in meinen Alltag lassen kann, ohne dass mich dafür die Götter strafen werden.
Bisher ist das aber nur theoretisch, und findet allein schon durch die Klinik statt, deren schlichte Existenz  für mich immer noch ein Segen ist.
Passend ist, dass es sich bei der Klinik um ein altes Herrenhaus handelt, samt Burggraben (das ist eine Gräfte, liebste Paula :-) ) und Schlosskatzen. Als ich da ankam, hätte nur eine Zugbrücke mich noch mehr Sicherheit spüren lassen können.
Der Selbstmord saß in den letzten Wochen und Monaten hier zu Haus beinahe täglich als Möglichkeit -und scheinbar guter Freund!- auf meiner Bettkante. Inzwischen steht er nur noch in der Tür, aber auch das ist noch nicht ganz vorbei. Meine Medikamente, mittlerweile durch noch ein weiteres Präparat ergänzt, sind ebenfalls dafür verantwortlich, dass ich aus dem Bett kann und etwas tun- und zusammen mit der neu zu findenden Struktur werden sie mich auf Dauer begleiten, denn laut ärztlichem Urteil sind die Depressionen bei mir eine Störung der Hirnchemie, die ich wenigstens teilweise geerbt habe. Diesen wird auch auf die Dauer vermutlich nur mit Psychopharmaka und Struktur (mein Gott, wie dieses Wort mich verfolgt!) zu beherrschen sein. Besonders positiv an der Klinik ist, dass ich dort Hilfestellung erhalte, um weitere, wichtige Schritte zu tun, wie zum Beispiel einen Verschlimmerungsantrag bezüglich der Feststellung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit zu stellen, und Kontakt mit meinem Arbeitgeber bezüglich weiterer Schritte aufzunehmen. Ich kann diese Dinge dort beginnen, und das ist gut so. Viele Kliniken machen sich diese Mühe nicht.
Am besten ist jedoch, dass ich dort ständig mit Menschen zu tun habe, etwas, was in den letzten zwei, drei Jahren hier nicht mehr ging. Ich habe noch drei gute Freunde, und die hab ich ganz schön strapaziert. Meine Fähigkeiten, Beziehungen zu meiner Umwelt aufrecht zu erhalten, ist nicht sehr ausgeprägt, wie die Leute aus leidvoller Erfahrung wissen, denn plötzliche und unerklärliche Rückzüge sind immer wieder vorgekommen und sind bei sehr vielen Menschen nicht sonderlich beliebt.
Aber ich versuche, daran zu arbeiten. Es fühlt sich alles schon wieder sehr viel stabiler an, wie ich finde. Das ist gut, aber das ist noch nicht alles. Ich werde auch nicht gesund und munter aus der Klinik entlassen werden, aber gesünder.
Und das ist gut so!

Stets die eure

Lily