Sonntag, 15. Dezember 2013

Alle Anderen

Alle Anderen sind mein Prüfstein.

Alle Anderen sind Maßstab, Metronom und Medium in meiner Welt, in meinem Leben, hier bei mir.

Und das kam so:

Als ich das erste Mal das Wort Depression hörte, konnte ich mir darunter nichts vorstellen. Klar, da gab es eine Beschreibung, oder auch zwei. Traurigsein, Weinen, Appetitverlust. Rückzug.
Das ist lange her, diese erste Bekanntschaft mit dem Wort. Mindestens 35 Jahre- aber so, wie mein Gedächtnis gestrickt ist, blieb diese erste Definition hängen. Und wurde somit zu einem Filter, an dem ich für mich unterschied: Depressionen. Keine Depressionen. Nur nebenbei und so am Rande. Nicht wichtig, ein Problem von Anderen, nicht meines.
Mit dieser Beschreibung in irgendeiner Schublade meines Hirns, das Definitionen und Worte aufsaugt, speichert und bei Gelegenheit auf meine Zunge wirft, lebte ich weiter.
Wurde mit 17 schwanger, heiratete mit 20, war mit 23 schon wieder geschieden und in einer neuen Beziehung mit der Liebe meines Lebens. Heiratete wieder, gute acht Jahre später,  und war vier Jahre später schon wieder geschieden, diesmal komplett am Boden.
Und weil ich mich fühlte wie amputiert ohne diesen Mann, der mal versprochen hatte, bei mir zu bleiben, ging ich erstmalig zu einer Therapeutin. Nach Monaten der durchdiskutierten Nächte, in denen genausowenig Schlaf stattfand wie in den durchgeweinten und durchgewüteten Dunkelheiten, traf ich diese Frau, die das erste Mal das Wort Depression auf mich anwandte. Aber halt, sagte ich mir, immer mit der Ruhe, Ball flach halten und so. Das ist bestimmt aus der Situation entstanden. Das geht vorbei, kein Grund zur Panik. Ich ging einige Monate zur Therapie und beschloss dann, in die Welt zurück zu kehren. Es folgten ein paar Episoden mit wechselnden Männern, mit One-Night-Stands und unbehaglichen Momenten, im Rückblick gefährlich und so gar nicht "ich". Aber auch das ging vorbei, und nach dem Erlebnis Diabetisches Koma und einer übel havarierten weiteren Beziehung gab ich "die Männer" auf- schließlich fehlte mir nix, oder?
Irgendwann in der folgenden Zeit, als selbst ich bemerkte, dass ich nur noch heulte, grübelte und vor mich hin stierte, suchte ich nach einer neuen Therapie und fand sie auch. Von Depressionen, dem "bösen" Wort, war erstmal nicht die Rede, ich ging dahin wegen dem, was ich als Chaos in meinem Leben empfand, als lähmende Unlust, als Faulheit und Trägheit und Ausweichmechanismen. Bis dahin verbrachte ich sehr viel Zeit damit, mich selbst zu beschimpfen für alles, was ich nicht auf die Reihe kriegte. Arzttermine, Steuererklärungen, Geschirrspülen, aktiv werden. Ein seltsames Entferntsein von allem, was mich mal interessiert hatte.
Viele, viele Stunden verbrachte ich in dem bequemen Sessel, vor meiner Therapeutin sitzend, immer das Kissen auf dem Schoß, die Arme verschränkt oder die Hände um das unausweichliche Taschentuch geschlungen. Heulte, machte Witzchen, verbrachte viel Zeit damit, unterschiedliche Bilder und Metaphern zu entwerfen, die ihr zeigen sollten, wie ich mich fühlte. Malte Bildchen dazu und hatte in der nächsten Stunde schon wieder eine neue Sau durchs Dorf zu treiben.
Währenddessen wurde mein Leben immer enger, ich immer älter und es änderte sich genau gar nichts. Im Gegenteil, es wurde schlimmer. Wochenenden verbrachte ich bei heruntergelassenen Rollläden und im kleinen Schlampenlook auf meiner Couch. Ging nicht vor die Tür, sah keine Leute, und ab Sonntag mittag heulte ich in der Regel am Telefon meinem besten Freund die Ohren voll, weil ich am nächsten Tag wieder in das ungeliebte Büro musste.
Nichts brachte Erholung, kein Wochenende, kein Feiertag, kein Urlaub. Abschalten Fehlanzeige, ich arbeitete quasi die Nächte durch, und am Morgen im Büro saß ich da, ohne eine Idee davon, was zu tun war und wie ich es anfangen sollte. Die Berge an Arbeit wuchsen langsam, aber stetig. Meine Panik stieg im gleichen Maß, denn ich hatte nicht den geringsten Plan (abgesehen von nächtlichen guten Vorsätzen) wie ich jemals wieder auf den laufenden Stand kommen sollte.
Der beste Freund von allen hatte die zweifelhafte Ehre, derjenige zu sein, der eingeweiht war- niemandem sonst verriet ich irgendein Wort über dieses Elend.
Und dann kam der Februar 2010, und für mich war das Ende der Fahnenstange erreicht. Ich weiß nicht, warum das so kam, aber es ging nicht mehr weiter. Mir fehlte sogar für den oft begrübelten Schritt ins Leere die Energie, wenn ich auch keine Hoffnung hatte, dass es jemals wieder ein Licht am Ende des Tunnels geben würde (ein anderes Licht als das des Intercity Paris-Moskau, versteht sich).
Ich konnte nicht mehr aufstehen, ohne mich eine halbe Stunde lang zu beschimpfen und zu versuchen, mich zu motivieren für einen weiteren frustrierenden Tag, der mir wieder vor Augen führen würde, welch eine absolute Versagerin ich war. Siebenundvierzig, zweimal geschieden, fett, faul, gefräßig und unheilbar an der Couch festgewachsen.
Ich ging wieder zu meiner Therapeutin und bat sie um Medikamente. Schlafen können, sich erholen, besserer Stimmung zu sein- sowas erhoffte ich mir.
Leider ist sie Psychologin und keine Psychiaterin, konnte mir also selbst nichts verschreiben. Von Baldrian, Johanniskraut und ähnlichem riet sie mir ab, wegen der teilweise erheblichen Nebenwirkungen.  Sie schickte mich also zu einer befreundeten Psychiaterin, die sich anhörte, was ich zu sagen hatte. Zwei Stunden später fuhr ich nach Hause, im Gepäck ein Rezept für Psychopharmaka und eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik.
Ich ging noch ein paar Tage zur Arbeit, weil ich das Gefühl hatte, noch aufräumen zu müssen, kriegte dann aber ziemlich direkt gesagt, dass ich auf dem falschen Dampfer sei, wenn ich glauben würde, in meinem Zustand irgendwas geregelt zu kriegen. Daraufhin verabschiedete ich mich, reichte am nächsten Tag die AU nach und kehrte nie wieder in dieses Büro zurück.
Ein paar Wochen später fuhr ich auf den Parkplatz der Klinik, die mich aufnehmen wollte, schloss das Auto ab und verbrachte die nächsten 12 Wochen dort, unterbrochen nur von drei ganz kurzen Wochenendaufenthalten in meiner Wohnung.
In meiner Klinikzeit hab ich sehr viel gelernt. Die Fakten, die ich von dort mitnehmen konnte, sind allerdings nur langsam in meine Seele und mein Bewusstsein gesickert- denn einiges habe ich nur sehr schwer akzeptieren können.
Dazu gehört, zu akzeptieren, krank zu sein- eingeschränkt leistungsfähig, geneigt, alte Fehler zu wiederholen (weil sie ja irgendwann einmal geholfen haben) und im Grunde nicht mehr ohne weiteres mithalten zu können.
Auch für diese Erkenntnisse war es nötig, noch ein paar Mal gewaltig aufs Maul zu fallen und damit zu lernen, dass ich eben einiges nicht kann. Es gibt Dinge, von denen ich mich verabschieden musste- zum Beispiel die Idee, etwas Großes auf die Beine stellen zu können. Meine Fähigkeiten auf die Straße zu bringen. Das Leben wird nicht mehr mühelos, wenn es Wochen gibt, an denen sich jeder Schritt anfühlt, als ginge man in hüfthohem Honig umher (oder, um es drastisch auszudrücken, in Schlamm und Scheiße).
Es ist schwer, Selbstachtung zu bewahren, wenn man sich so selten in der Lage sieht, stolz auf sich zu sein. Und es ist unglaublich mühselig, Die Anderen aus der eigenen Wertung herauszulassen. Sich nicht zu vergleichen, sich nicht zu messen- weil die Voraussetzungen unterschiedlich sind, und weil Depressionen einen am Fuß einer sehr hohen Leiter abstellen. Manchmal ist es nur die Leiter, die mir im Weg steht, manchmal ein Gipsbein und Höhenangst, die zusammen mit der langen Sprossenreihe von vornherein abschrecken. Und ich weiß heute, (wenn ich auch nicht immer fühle, dass es so ist) dass ich nix dafür kann, nicht level-on mit Den Anderen zu starten.

Ebenso hab ich gelernt, dass Depressionen sich in vielen Teilen des Körpers breitmacht. Mir hats die Zähne ruiniert (zusammen mit dem Diabetes), durch Zähneknirschen und ständiges Zähnezusammenbeißen, der Rücken und der Nacken sind praktisch chronisch verkrampft, und da ich sehr oft im "Überlebensmodus" bin, bleibt auch heute noch nicht viel Energie für Erholung übrig- um sich wirklich zu erholen muss man was tun, und wenn man das nicht auf die Reihe kriegt, ist das übel.
Auch das Gedächtnis leidet, die Fähigkeit, auf Anforderungen angemessen (und nicht mit panischem Rückzug) zu reagieren, und, am schlimmsten für mich, die Konzentration. "Kopfsalat" ist ein Dauerzustand, das Grübeln eine Störung jeder geplanten und zielgerichteten Handlung, und am schlimmsten kollidiert die Lily mit dem, was lebenswichtig für sie wäre: Struktur.
Hätte ich eine, so könnte ich teilweise auf Autopilot laufen- manche Dinge würde ich einfach machen, ohne groß zu denken. Aber ich war lange Jahre stolz auf mein unstrukturiertes Leben, weil mir alles andere lähmend langweilig erschien- und es auch sehr viel Mühe gekostet hätte, sich daran zu gewöhnen.
Momentan bin ich dabei, seit ein paar Monaten dafür zu sorgen, dass ich regelmäßig in kleinen Schritten und jeden Tag mit einer halben Stunde Einsatz meine Wohnung in Ordnung halte. Denn die früheren Samstagsputzorgien schaffe ich schon seit Jahren nicht mehr. Das hat dazu geführt, dass ich in den letzten zwei Jahren maximal 5 Mal jemanden hier zu Besuch hatte. Öfter hat das "Begehbar-Machen" nicht funktioniert. Und trotzdem ich das seit Monaten trainiere, finde ich keine Anzeichen für das Einsetzen des Autopilots. Motivieren muss ich mich immer noch, und manchmal richtig überreden, abends die Teetasse in die Spülmaschine zu bringen. Obwohl ich WEIß, dass das das Richtige ist, und obwohl es circa 15 Sekunden dauert. Da frag ich mich dann doch noch oft, ob Die Anderen das nicht besser machen...nein. Das ist nicht richtig: Ich weiß, dass Die Anderen das besser machen.

Übrigens nehme ich seit ein paar Monaten wieder Antidepressiva. Sie nutzen mir, um ein bisschen Abstand von dem inneren Chaos zu kriegen, von der Angst, der Trauer, der Abwehr von Nähe. Ich bemerke, wenn ich grüble, und kann das meist oft manchmal beenden.  Die zusätzlichen Probleme, die ich durch den Diabetes und die Essstörung habe, sind ein wenig mit dem Hintergrund verschmolzen und so konnte ich ein paar Kilos ablegen, ohne über das Wörtchen "Diät" wieder die alten Teufel auf den Plan zu rufen.

Trotzdem. Trotzdem freue ich mich auf das, was mich im nächsten Jahr erwartet... Hinweis: Es bietet Gelegenheit zum Stricken.

Also- all's well that ends well?
Aber sowas von.

Schönen Sonntag, ihr Lieben da draußen.



4 Kommentare:

Frau Vau hat gesagt…

Dir auch, liebe Lily! Alles Liebe!

Lily hat gesagt…

Danke dir.

Georg hat gesagt…

Und...
Die anderen können es auch nicht.

...nicht mehr.

Ich freu mich trotzdem. Auch wenn ich nicht stricken kann.

http://paulacolumna.wordpress.com hat gesagt…

Uff, was für ein Kraftaufwand, die Felsbrocken immer wieder den Hügel hinaufzurollen! Respekt!

Bei der Diagnose kann ich gar nicht mitreden, ich hatte sie glücklicherweise noch nie. Wie sich das anfühlt, kann ich manchmal an P. beobachten. Ihm hilft nur immer wieder aufstehen und weitermachen.

Und was "die anderen" können, pfff pfeif drauf!