Montag, 13. Dezember 2010

Der Grund

Den Grund für all das, was schief gelaufen war, würde er wohl nie mehr sicher herausfinden. Das war das schwerste gewesen: Abschied zu nehmen von dem unbedingten Willen, Ursachen zu erforschen und damit vielleicht auch Verantwortung und Schuld zu verteilen, weg von sich, hin zu anderen.

Mit dem Loslassen dieser Fixierung hatte sich auch vieles andere gelöst, denn der Verzicht auf die Zuschreibung von Schuld hatte eine Kettenreaktion der Vergebung ablaufen lassen. Zunächst waren da seine Eltern gewesen. Natürlich waren Eltern immer an allem Schuld, und trugen für alles die Verantwortung- aber welche Eltern? Die eigenen? Oder vielleicht deren Eltern? Denn so, wie er selbst sich exkulpierte, nämlich über die Erbsünde der Erziehung, konnten sich wiederum seine Eltern ent-schuldigen, und so weiter, und so fort.

Wie war er nur darauf gekommen, schmollend wie ein dreijähriger Hosenscheißer mit den Füßen aufzustampfen und ein klägliches „Ihr habt aber angefangen“ den beiden Menschen entgegen zu jammern, die ihn nach bestem Wissen und Vermögen auf dieses Leben vorbereitet hatten? Natürlich hatten sie Fehler gemacht, und warum auch nicht? Manchmal waren sie unkonzentriert, müde und überlastet, manchmal hatten sie Angst- sie waren in anderen Zeiten aufgewachsen, unter anderen Prämissen, und konnten nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass das ihnen mitgegebene Handwerkszeug eine Generation weiter nicht mehr ausreichen würde, um ein sinnvolles Leben zu führen.

Nach einer kurzen Weile war ihm sogar klar geworden, dass ihm nicht einmal Vergebung zustand. Denn auf diese konnte nur jemand hoffen, der schuldig geworden war, und trotz aller Nachforschung war das Schlimmste, das er ihnen vorwerfen konnte, eine gewisse Überbeanspruchung und mangelndes Wissen um Ursachen und Wirkung gewesen. Schuldig im Sinne der vagen Anklage waren sie nie geworden.



Wenn ihm aber Vergebung nicht zustand, und Verständnis und Toleranz für die zwei begrenzten Menschen in seiner Vergangenheit an ihre Stelle traten, was blieb dann für ihn? Ihn, der sich doch rühmte, eine gewisse Weitsicht zu haben, ein Händchen für Informationen und deren Verarbeitung? Eine gewisse – Klugheit?

Sollte er tatsächlich an allem selbst schuld sein?

Die Erkenntnis, die dieser Frage folgte, brach sich nur langsam Bahn. Die Erkenntnis nämlich, dass Schuld und Verantwortung auch bei ihm selbst klar mit den Vorgaben einher gingen, mit denen ausgerüstet er sich dem Leben stellen wollte. Nämlich mit all seinen Grenzen, all seinen Macken, Fehlern, und dem unzureichenden Handwerkszeug der letzten Generationen, das diese ihm vererbt hatten.

Er hatte versucht, mit einem kleinen Kindereimer einen See leer zu schöpfen.

Dass das nicht gelungen war, war nicht nur kein Wunder, sondern nicht anders zu erwarten. Schuld daran trug er nur soweit, als dass er sich die Aufgabe gestellt hatte, ohne seine Mittel zu überprüfen, ohne das Ziel in Frage zu stellen, ohne zwischendurch innezuhalten und ein Urteil über Sinn und Unsinn des Unternehmens zu fällen.

Schuld trug er vor allem aber in der ätzenden Kritik, der giftigen Selbstherabsetzung, der Wut und des Zorns, die er in sich gehegt und gepflegt hatte, die er gekaut, geschluckt und mit masochistischem Vergnügen ausgefeilt wieder von sich gegeben hatte.

Ein Weg zur Versöhnung mit sich selbst und seinem Leben lag damit klar vor ihm.



Er würde ihn nur noch gehen müssen.

1 Kommentar:

Kate hat gesagt…

Manchmal bringt es schon eine ungemeine Erleichterung, wenn man so einen Weg entdeckt hat!
Dann muss man nicht wie von der Tarantel gestochen losrennen weil man ja eh schon so viel Zeit vertrödelt hat...man kann sich einfach mal hinsetzen, sein Pausenbrot rausholen, sich genüßlich ins Gras legen und auch mal ausruhen.
Der Weg vorher war schließlich anstrengend genug! Diesen Weg kann man ganz bewusst und langsam gehen, immer ein Auge auf die schöne Landschaft drumherum und das surren der Bienen im Ohr!

Gute Reise an den Wanderer! :-)