Sonntag, 19. Februar 2012

Zehn

Jahre, 520 Wochen, 3.652 Tage, und jeder davon mit 86400 Sekunden (glaube ich)- so lange ist das jetzt her, dass die Diagnose Diabetes Mellitus late-onset-Typ 1 so langsam in mein Bewusstsein kroch.
Mein zu dem Zeitpunkt gerade erst kurz zuvor erreichtes ausgeglichenes und entspanntes Verhältnis zu Nahrungsmitteln war in nullkommanix vom Winde verweht, und hat sich nicht mehr wieder eingestellt, egal, wo ich auch suche.
Die Zeit vom 5. Februar bis zum 9. März 2002 hab ich im Krankenhaus verbracht, eingeliefert als halbtoter Notfall und entlassen als ziemlich ängstliche Neuchronischkranke.
Drei Tage später habe ich mich aufgemacht zu einer sechswöchigen Reha-Maßnahme, während der man mir beizubringen versuchte, dass es nichts gibt, was man mit Diabetes nicht tun kann.
Das ist gelogen.
Man mag noch Berge besteigen, Klavier spielen, Nobelpreise gewinnen und SOS-Kinderdorf-Mutter sein können. Vielleicht kann man Opern singen, Sex haben, einen Iron-Man absolvieren, in den Urlaub fahren oder Gold schürfen in Alaska.
Was man nicht mehr kann, ist irgendwas davon spontan einfach tun.
Dein Auto springt nicht an, wenn du abends bei Freunden bist? Dumm- du musst trotzdem nach Hause, weil dein Nachtinsulin dort liegt. Viel Spaß beim Bahnfahren.
Du bist im Restaurant und das Essen schmeckt grauenvoll? Egal, du hast gespritzt, nun iss die ekligen Nudeln auch auf.
Dein Keller läuft voll Wasser? Iss erstmal was, bevor du zehn Mal mit dem Eimer die Treppe rauf und runter läufst, sonst fällst du noch um.
Sauna? Vielleicht. Honig-Aufguss? Besser nicht. Ungeplanter Sex? Nie ohne vorher was zu essen (die Zeiten, in denen meine Pumpe rhythmisch dazu vom Nachttisch alarmte, sind vorbei- das würde ich nicht wieder wollen).
Spontan ein Fläschchen Wein? Ähem. Man weiß nie.
Und so weiter, und so weiter.
Es geht mir immer noch so total auf den Wecker.
Und egal, was sie einem erzählen: Man verpasst besser keine Mahlzeit, isst nicht die ganze Tafel Schokolade, das halbe Pfund Kirschen besser auch nicht, und Cocktails vergisst man ohnehin lieber. Urlaubsreisen per Flugzeug? Nur mit einer Bescheinigung vom Arzt, damit man sein Spritzbesteck mitnehmen darf an Bord (Schon mal über diabetische Terroristen nachgedacht? Die haben so eine Bescheinigung, mit Sicherheit. Und Insulin ist ein Teufelszeug, das auch Gesunde in kürzester Zeit aus den Latschen haut).
Alles in allem wäre es mir lieber gewesen, sie hätten uns das von Anfang an so erzählt, mit allem drum und dran. Natürlich hätte das abschreckend geklungen- aber eine Wahl, ob wir das wollen oder nicht, hatten wir selbstverständlich zu keiner Zeit. Insofern ist das Belogen-worden-sein besonders doof. Und so verdammt überflüssig.

Und jetzt geh ich weiter schmollen.

DieLily

6 Kommentare:

Georg hat gesagt…

Diabetes Mellitus late-onset-Typ 1 ist ein Arschloch.
So. Das haste nun davon.

Georg hat gesagt…

Du bist die Beste. Ich hab Dich lieb!

Paula hat gesagt…

Scheiß-Krankheit! Und es hilft ja auch nicht, dagegen anzukämpfen, eher schön brav die Regeln zu befolgen und die Spontanität abzugewöhnen.

Das würde mir auch extrem auf den Keks gehen!

Kate hat gesagt…

Wie sagt man so schön "Die beste Krankheit taugt nix" ... und ich bin wieder mal perplex, wie lang das alles schon her ist...kopfschüttel

Muschelsucher hat gesagt…

Mit meinem Sohn im KH Zimmer war neulich auch ein ganz neuer Diabetiker, dem man auch klar machte, wie süß das Leben doch sei. Ich kenne aber auch die beschriebenen Nachtteile von meinem Neffen, der jetzt 5 Jahre damit lebt und damit sein halbes Leben.

Liebe Grüße

Bea W. hat gesagt…

Ich hätte auch lieber gleich die ganze Wahrheit gehört, aber Ärzte sind eben auch nur Feiglinge.