Freitag, 2. Mai 2014

Absurdistan, Abt. Öffentliche Gesundheitsdienste

Wie ihr inzwischen alle wisst, liegt ein Teil meiner Kernfamilie in diversen Betten eines öffentlichen Krankenhauses.
Die Schwiegertochter, die vor einer Woche noch im Koma lag, ist mittlerweile wieder auf den Beinen, es geht ihr soweit ganz gut. Die Auswirkungen des Leber- und Nierenversagens und die Folgen der so katastrophal verlaufenden Entbindung sowie des septischen Schocks sind noch nicht vollständig behoben, sie ist jedoch auf dem Weg der Besserung und läuft bereits wieder herum.

Schrecklich ist jedoch weiterhin der Zustand von Raphael, meinem Enkelkind. Er wurde klinisch tot geboren, reanimiert und mit einem APGAR von 2 auf die Intensivstation aufgenommen. Bis Montag wurde er beatmet. Am Montag wurde versuchsweise die Beatmung abgeschaltet. Raphael atmete von selbst weiter- was alle erstaunt und verwundert hat. Dem Fachpersonal und auch meinem Sohn und mir war jedoch schon klar, dass dieses Atmen nicht von Dauer sein konnte. Seit der Aufnahme in die Klinik haben sämtliche EEGs eine Nulllinie gezeigt. Die Hirnscans haben keine Durchblutung des Gehirns feststellen können, lediglich Stammhirnreflexe sind auslösbar. Die  Diagnose  "apallisches Syndrom" ist fast ein Euphemismus in diesem Zusammenhang.
Meine Schwiegertochter, sehr religiös und unter starkem Einfluss ihres (evangelikalen) Pastors, hat nach einem Blick auf das scheinbar lebende, warme und atmende Kind beschlossen, dass auch die Wiederaufnahme der Gehirntätigkeit eine Frage der Heilung aufgrund göttlicher Intervention sein würde, und hat sich dahingehend durchgesetzt, dass auch weiterhin Atmungsunterstützung vorgenommen wird, ebenso wie alle anderen Organunterstützungsmaßnahmen die denkbar sind. Sie unterschreibt gar nichts (aufgrund dringender Anweisungen des Pastors), so dass mein Sohn auch die Vaterschaft bisher nicht anerkennen konnte. Das führt dann dazu, dass jegliche Entscheidung nur noch unter dem Blickwinkel ihres Einflusses getroffen wird. Da bleibt dann, Religionsgemeinschaft sei Dank, kein Platz mehr dafür, diese kleine Seele einfach gehen zu lassen. Statt dessen wird dem Sterben des Kindes auf Raten zugesehen, inklusiver mehrfacher Reanimierung aufgrund zwischenzeitlich stattgefundener Herzstillstände.
Der hier eine Rolle spielende Pastor hat der Schwiegertochter auch ausgeredet, am Samstag vor Ostern ein Krankenhaus aufzusuchen, da "Gott allein da helfen kann". Am Ostersamstag hätte jeder verantwortungsbewusste Gynäkologe die Schwangerschaft durch Kaiserschnitt beendet. Die Amnioninfektion hätte ihn dazu gezwungen. Diese Gelegenheit wurde verpasst, und daran trägt dieser Geistliche Schuld. Diese Schuld möge ihn für immer verfolgen.

Die eigentliche Geburt am Ostersonntag wurde dadurch erschwert, dass Raphael eine Steißlage war. Dadurch wurde unter der Geburt die Nabelschnur, die um den Hals des Kindes verlief, abgedrückt- und dadurch, dass er eben verkehrt herum kam, konnte er noch nicht selbst atmen. All das wäre bei einem Kaiserschnitt ohne jede Auswirkung geblieben. Dass der Rettungswagen sich dann noch verfahren hat und das Haus nicht fand, war nur noch das Tüpfelchen auf einem großen, fetten, hässlichen i.
Am letzten Donnerstag, noch ohne die Mutter, hat mein Sohn sein Kind taufen lassen, und zwar katholisch. Der uns völlig unbekannte Geistliche hat sein Werk gut getan, und weder Höllenbilder entworfen noch unverantwortlich Hoffnung verbreitet. Damit konnte vor allem mein Sohn gut leben, und um den  dreht sich augenblicklich mein gesamtes Denken. Einen kleinen Abschluss hat das Elend für ihn da gefunden, die Entscheidung, die kleine Seele gehen zu lassen, konnte er treffen.
Danach wurde die Mutter aus der Uniklinik wieder in das gleiche Krankenhaus verlegt, in dem ihr Sohn liegt- damit sie Abschied nehmen kann.
Die ersten Gespräche mit den Ärzten und ihr waren nicht sehr erleichternd, weil sie der Meinung war, alles andere habe ja auch wieder angefangen zu arbeiten... "and so his brain will start to work again, soon", sagt dieses Gotteskind und strahlt einen an. Das war am Montag, nach dem Versuch, ihn allein atmen zu lassen. Das sind dann Momente, in denen ich verzweifeln könnte, auch, weil sie so eine böse Überraschung für sie bergen.

Inzwischen ist jedoch auch Raphaels Mutter klar, dass da etwas nicht stimmt. Die Arme hatte ja viel weniger Gelegenheit, sich mit den Fakten vertraut zu machen, die erste knappe Woche nach der Geburt lag sie schließlich noch im Koma. Nach der zweiten eindringlichen Belehrung durch die Ärzte hat sie sich gestern entschlossen, die intensivmedizinische Behandlung für ihn auslaufen zu lassen. Keine Reanimation mehr, keine invasiven Techniken, nicht noch eine cardiopulmonale Notfallbehandlung. Da konnte sie endlich auch weinen- wenn nicht ihr Pastor angerufen hätte, und ihr am Telefon das Weinen verboten hätte.
Einsatz mein Sohn, der ihr wieder mit Hilfe der Ärzte und Engelsgeduld klarmachte, was da zur Entscheidung steht. Sie hat sich dann in Ruhe ausweinen können, und im Anschluss daran ihren vorherigen Entschluss bestätigt. 

Und nachdem das alles abgewickelt und der Blutdruck meines Sohnes wieder normal war, ging die Tür auf und die evangelische Krankenhausseelsorgerin stand auf der Matte, um ein gutes Werk zu tun. Hat im Gefolge ihres Gesprächs dann gemeint feststellen zu können, dass die arme Frau ja gar nicht voll informiert ist, und dass man, vor der Entscheidungsfindung, noch einen Dolmetscher* finden muss, der das ganze mit ihr noch einmal durchkaut.

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man meinen, in einer Boulevardkomödie zu stecken, einer von denen, in denen immer die Leute raus und rein rennen und die Dinge immer schneller und chaotischer geschehen, bis dann alles zusammen bricht. Offenbar scheinen sich die Seelsorger und die Ärzte nicht abzusprechen - denn der Chefarzt und der Oberarzt, die die Gespräche mit der Mutter geführt haben, sind der festen Überzeugung, dass sie alles verstanden hat, aber Schwierigkeiten hat, das alles emotional zu verkraften.

Und wer hätte die nicht?
fragt sich
Die Lily.

* die Frage nach einem Übersetzer, der nicht nur die Muttersprache spricht, sondern auch psychologisch bewandert und am besten auch noch Mediziner ist, haben wir auch schon gestellt, und sind gescheitert. Die Muttersprache meiner Schwiegertochter ist ein nigerianischer Dialekt, den sie jedoch auch nicht durchgängig spricht. Meist spricht sie Englisch, sehr geübt, wenn auch mit starkem afrikanischem Akzent. Ihren Heimatdialekt spricht sie fast nur mit ihrer Schwester (die im übrigen der gleichen Gemeinde angehört und eins zu eins den Willen des Pastors vermittelt und unterstützt)
Es ist sehr schwer, hier die Balance zu halten, und nicht aus Sprachproblemen auf Intelligenzmangel zu schließen, es ist ungeheuer schwierig, in so einer Situation sich nicht von seinen eigenen kulturell bedingten Trauermechanismen steuern zu lassen und dem anderen die Emotion und die Ratio nicht abzusprechen, wenn er anders, vielleicht bizarr oder hart, reagiert. 




5 Kommentare:

Frau Vau hat gesagt…

Ach Lily, das ist ja eine schreckliche Situation für deinen Sohn und dich.. und auch natürlich die arme Mutter von Raphael. Ich hoffe, sie kann sich bald endgültig von ihm verabschieden und wünsche euch als Familie alles Gute für die nächste Zeit.

Meise hat gesagt…

Da würde ich wahrscheinlich - eigentlich ein friedliebender Mensch - ziemlich Mühe haben, dem "Ratgeber" nicht in die Fresse zu hauen.

Alessa hat gesagt…

Wenn ich das lese, hoffe ich doch sehr, dass die nächste Stufe der religiösen Verblendung des evangelikalen Pastors nicht darin besteht der Mutter einzureden, dies wäre eine Strafe Gottes für was-auch-immer gewesen ...

Ich wünsche Ihnen allen Kraft, um mit den Umständen, wie auch immer sie sich nun entwickeln werden, umzugehen.

Lily hat gesagt…

@Frau Vau: Am schlimmsten ist, dass man unausweichlich auf den bereits bekannten Endzustand hin warten muss...
@Meise: Rate mal, warum ich nicht ins Krankenhaus gehe, wenn religiöser Besuch droht? Derzeit gehe ich aber auch deshalb nicht, weil die Mutter einen MRSA-Keim hat, und ich genug von Krankheit habe.
@Alessa: Würde mich nicht wundern, wenn er das schon angeleiert hätte, der Reverend. Sowas geht ja üblicherweise recht fix.

Frau Vau hat gesagt…

Das sind ja höchst ungewöhnliche Töne von Frau Meise.. aber ich kann ihr da nur voll und ganz beipflichten.