Mittwoch, 21. Januar 2015

Schuckeflinse und Ruscheldups

Wie vermutlich niemand hier weiß (weil ich es noch nicht geschrieben habe, daher), stammen meine Vorfahren väterlicherseits aus Frankreich. Unser Hausname ist erstmalig für das 13. Jahrhundert in irgendeinem Pariser Arondissement erwähnt. Ein Schlenker über Ostpreußen und ein paar schöne, eingeheiratete und leider nicht mehr geführte Hausnamen später findet mich das Schicksal im Ruhrgebiet in West-Deutschland im 21. Jahrhundert- mit einem dementen Vater und einem ziemlichen Maß an Traurigkeit darüber, dass jemand, den man in den letzten 50 Jahren kaum kennengelernt hat, im eigenen Vergessen verschwindet.
Demenz, egal ob Alzheimerklasse oder weniger dramatisch verlaufende Varianten, bedeutet das innere Absterben der Person, die einem noch gegenüber sitzt. Zum Glück haben wir als Familie die Anzeichen früh bemerkt, und mit Trainings, Medikamenten und sowas es etwas aufhalten können. 
Aber es wird schlimmer, und die Auswirkungen auch seines hohen Alters sind unübersehbar.
Was macht man nun, wenn man jemanden besucht, mit dem man schon in gesunden Tagen kaum ein Gesprächsthema hatte?
Man versucht, mit ihm über seinen Teil seiner Vergangenheit zu sprechen, den Teil, den man selbst nicht erlebt hat. Da kann man fragen, und fragen, und fragen- er hat immer was zu erzählen, und dieses schreckliche "Das weiß ich nicht mehr" bleibt zum Glück aus.
Gestern nun hab ich eine alte Familiengeschichte aufgewärmt, aus der Zeit, als meine Mutter und er frisch verheiratet waren- das ist ungefähr 55 Jahre her.
 Mutters erste Versuche, Reibekuchen zu backen, um den frischen Ehemann zu erfreuen, waren nicht sehr erfolgreich. Die ihr geläufige Rezeptvariante sah recht dicke Exemplare vor, die noch dazu erst nach Gesamtabschluss des Bratvorgangs serviert wurden. Nun war mein Vater gewohnt, dass ihm sehr dünne, knusprige Reibekuchen direkt aus der Pfanne vor die Nase gesetzt wurden, und ich vermute mal, es fand eine frühe Krise in der frischen Ehe statt, als er vehement genau diese Reibekuchen verlangte- weil seine Mutter sie so gebraten hat. Ein Klassiker, oder?
Ich kann ihn deswegen nicht verurteilen (wenn ich auch vermute, dass sein Charme nicht erst in den letzten Jahren von der eher ungeschliffenen Art war), denn die Reibekuchen meiner Mutter, nach Omas Rezept,  schlagen alles, was je jemand anderes mir unter diesem Namen vorgesetzt hat. Egal ob frisch aus der Pfanne oder kalt, mit Brot und Apfelmus oder einfach so gegessen, diese Dinger sind echt der Hit. Zwar dazu angetan, den Esser das Rennen um den höchsten Cholesterinspiegel gewinnen zu lassen, aber wen schert das schon? Mich nicht.
Eingedenk der Geschichte mit den ersten Reibekuchen, die Mutter für ihn gebacken hat, hab ich ihn dann mal gefragt, ob seine Mutter diese Dinger auch so gebacken hat, und wie die kleinen, fiesen Leckereien denn in seiner Heimat genannt wurden. Ohne nachzudenken konnte er mir ihren Namen nennen: Schuckeflinse. Von "Schucke", ostpreußisches Platt für Kartoffeln, und "Flinse", nu ja, halt Flinse. Er schien mir ziemlich wehmütig, weil seine Herkunftssprache so von der Landkarte verschwunden ist- die letzten Menschen, die diese noch gelernt haben, sind inzwischen vermutlich 70 und älter, und nachgewachsen ist wahrscheinlich keiner. Ich hab ihm dann erzählt, dass seine Mutter mir als Kind einen "Ruscheldups" attestiert hat, und er hat gelacht- der Dups, das ist der Hintern, und das ruscheln (mit weichem "sch", nicht wie in Rascheln, sondern wie in Garage), das ist das unruhige Herumrutschen.
Dann hat er noch ein paar russische und polnische Worte ins Rennen geworfen, aufgeschnappt auf der Flucht, in ziemlich beängstigenden Zeiten und Umständen, und hat bedauert, dass er nie Polnisch gelernt hat. Meine Mutter hingegen schwärmte derweil von der Landschaft in Warmia in Polen, früher Ermland (Masuren), wo das Dorf liegt, in dem mein Vater aufwuchs. Aus seinen Erzählungen habe ich mir immer eine Art Lönneberga vorgestellt, wenn der Ort auch Wolnica heißt- und sie meinte, das wäre auch so, nur ohne die bunten Häuser. Mein Vater ergänzte dann die Namen der Dorfbewohner, des Krämers, des Schmieds (Verwandtschaft), und wir haben uns über die hübschen Namen in unserer Familie gefreut, aus der Zeit, die jetzt Vergangenheit ist. Lindenblatt, Langwald, Ruhnau, Tolksdorff- lauter Namen, die hier nicht vorkommen. Der Kracher für Mutter und ihn war die Gaststätte "Tadeusz Huhn", die Buchstaben längst heruntergefallen vom Gebäude, aber ihre Umrisse zumindest Ende der Achtziger noch sichtbar.
Alles das wird in absehbarer Zeit vergessen sein und nur noch als Erzählungen in meinem Gedächtnis weiterleben.
Und das Wort Schuckeflinse gab es bis jetzt nur in zwei Fundstellen bei Google. Jetzt sinds drei.
Haltet durch!
Die Lily.



4 Kommentare:

Paula hat gesagt…

Wie schön, er kann noch Worte formulieren und Geschichten erzählen. Schreib sie bloß alle auf!

Georg hat gesagt…

Ich beneide dich. Mir bleibt das Telefon. Nur, du kennst ihn ja. Für ihn hätte man das nicht erfinden müssen.
Ich mag seine Geschichte(n).
Da lerne ich, warum er so war, wie er einmal war. Ich verdanke ihm viel.

Anonym hat gesagt…

Mein Vater wuchs auch in Freimarkt/Wolnica auf. Und der Taddäus Huhn ist Verwandtschaft von uns. Trage selbst auch noch diesen Namen.

Lily hat gesagt…

Das ist ja toll! Schade, dass mein Vater nicht mehr lebt, das hätte ihn sehr begeistert. Ich werd es seiner Schwester berichten. Viele Grüße!