Montag, 9. November 2009

Ol’ man Daddy


Mein Vater ist ein alter Mann geworden.
Er ist 77 Jahre alt, und war immer ein Baum von einem Mann, fast einsneunzig groß und muskulös von Jahrzehnten körperlich harter Arbeit.
Dann, vor drei Jahren ungefähr, fing er an zu schwächeln, baute ab und man stellte fest, dass eine seiner Herzklappen nicht mehr sauber das tat, was sie tun sollte- Quittung für einige Hungerjahre während des Wachstums und auch ein Ergebnis der harten Arbeit.
Er bekam eine neue Klappe, vom Schwein, soweit ich weiß. Hält zwar nicht so lang wie eine künstliche, aber das muss sie auch nicht bei einem Menschen von damals schon Mitte 70, und aufgrund der Schweine-Herzklappe hält sich die Medikation in Grenzen, was besser ist.
Die OP, die auch eine Trennung des Herzens vom Körper und den Einsatz der Herzlungenmaschine vorsieht, hat ihm schwer zugesetzt. Während einer ganzen Reihe von Tagen nach der OP war er in einem postoperativen Delirium, und hat meiner Mutter einen Heidenschrecken eingejagt- und mir auch.
Ich wusste, dass bei älteren und schwer kranken Patienten so etwas vorkommen kann, aber es ist natürlich etwas vollkommen anderes, theoretisches Wissen über so ein Krankheitsbild zu besitzen, als seinen Vater so durchdrehen zu sehen.
Er litt massiv unter Halluzinationen, die seine Erlebnisse bei der Flucht quer durch Europa, von Osten nach Westen, zurück, und später dann wieder nach Westen widerspiegelten. Dinge, die er als Kind erlebt hat- mit 12 Jahren seine kleinen, verhungerten Geschwister am Straßenrand verscharrend, mit seinen begrenzten Kräften versuchend, Mutter und Großmutter zu beschützen, und sich scheitern sehend.
Jedoch auch diese ziemlich dramatische Zeit ging relativ rasch vorüber, und man entließ einen Mann nach Hause, den ich auf der Straße nicht ohne weiteres wieder erkannt hätte.
Einige Wochen Reha und eine gewisse Erholungszeit später war er der Alte- fast.
Etwas kleiner geworden, schmaler und blasser, und immer öfter aus der Bahn geworfen von seltsamen Orientierungs- und Kreislaufproblemen, die nach der eingeholten ärztlichen Auskunft dann durch einen Schrittmacher behoben werden sollten. Mein Vater hat einen Blutdruck knapp über der Grasnarbe, einen Ruhepuls wie ein Hochleistungssportler, und kriegte dann vor 2 Jahren eben das Maschinchen, das seinem Herzen ein bisschen Beine machen sollte.
Das half- aber nur begrenzt.
Anderthalb Jahre später, in diesem Sommer, häuften sich Episoden, die zeigten, dass er massiv beeinträchtigt war, was sein Gedächtnis betrifft. Auf diese Episoden folgte Angst, die er nicht gut ausdrücken kann, hat er doch sein Leben lang sich bemüht, niemanden bemerken zu lassen, wenn er Angst hat.
Angst macht ihn aggressiv, und seine Aggressionen machen meiner Mutter Angst- die ihn nicht wiedererkennt, und die deshalb recht ungehalten auf diese Episoden reagierte- nicht immer, aber immer öfter.
Endlich, nach einer Reihe von Vorfällen, die mich immer mit den Tränen kämpfen lassen, sentimentale Flunder, die ich bin, hat er sich entschlossen, seinen Befürchtungen auf den Grund zu gehen und hat sich in der Demenzsprechstunde vorgestellt.
Die ersten Tests zeigten starke Hinweise auf Morbus Alzheimer.
Mein erster Gedanke war: Oh Mann- das ist so ungerecht...
Leider ist das nie gerecht, keiner verdient das. Egal, was er mitgemacht hat oder nicht, das ist und bleibt ungerecht.
Das ist aber auch, und bleibt!, das Leben.
Es fiel mir wieder ein, dass wir seit Jahren möchten, dass er nun, wo er endlich drüber reden kann, zusammen mit seinen zwei überlebenden Geschwistern uns noch einmal allen auf Band in Interviewform die Geschichte seiner (unserer) Familie erzählt.

Mir fiel ein, dass ich diesen Mann kaum kenne- bis auf die Daten und Fakten.
Er war nie besonders redefreudig, denn für seinen leichten Sprachfehler (er stammelt bei Aufregung etwas) hat er zu Hause Prügel bezogen und vermeidet daher jede Äußerung, die ihn irgendwie aufregt. Da Kinder einen zwangsläufig irgendwann aufregen, hat er nicht viel mit uns geredet. Mit meinen Brüdern schon, mit denen hat er Sachen gemacht, Arbeiten am Haus und sowas, hat ihnen da was beigebracht, aber mit meiner Schwester und mir konnte er nichts anfangen. Ich bin ihm besonders fremd, denn im Gegensatz zu meiner kleinen Schwester lebe ich ein Leben, das er nicht kennt, und bin überhaupt keinesfalls das, was er sich unter einer Frau vorstellt. Denn die sieht erstmal komplett anders aus, und zweitens verhält sie sich auch nicht so wie ich.
Ich kann mich noch an eine Diskussion erinnern- es ging darum, meine Mutter zu begleiten zu irgendeinem Anlass.

Lily: Ich kann nicht mitgehen, ich muss Arbeiten. Urlaub krieg ich nicht. Frag doch einfach C! (Die Schwester, Anm. d. Bl.)
Vater, mit allen Anzeichen bürgerlichen Entsetzens: Deine Schwester hat KINDER (Anm. d. Bl.: Ich auch- nun ja.)
Lily: Meine Schwester hat auch einen Mann, der sich mal um seine Töchter kümmern kann!
Vater: Dein Schwager ist beruflich EINGESPANNT! (Anm. d. Bl: Wohingegen ich mir vermutlich den ganzen Tag im Büro die Fußnägel feile...)

Ich hatte also Gründe, als ich fluchtartig das Etablissement verlassen habe. Denn ehrlich- wtf??

So ist halt mein Verhältnis mit meinem Vater. Irgendwie hab ich ihn schon lieb, andererseits gibt’s genug Gründe, ihm (immer noch. Wer war hier erwachsen, bitte?) vorzuwerfen, dass er alles an Standardmaßen misst, dass es keine Individualität gibt, die außerhalb seiner Schemata existenzberechtigt ist.

Ich weiß genau, wie er tickt... Frag ihn nach was, was du haben willst- und er setzt Berge in Bewegung, um es zu besorgen. Bitte ihn, ein Konzept in Frage zu stellen, und du wirst scheitern.
Ich weiß genau, was er erlebt hat, warum er so ist, und dass ich ihn nicht ändern kann.
Manchmal will ich ihn auch gar nicht ändern, und manchmal möchte ich einfach nur kreischen. Und bei allem Verstehen sind da kilometerweite Distanzen zwischen ihm und mir- nicht nur, aber auch, weil der Wunsch zu Verstehen so einseitig ist.
Dies ganze Durcheinander hat diese Verdachtsdiagnose auf einmal ans Tageslicht gespült. Nichts Schlimmes von der Sorte Generalabrechnung- nur der ganz alltägliche neurotisch gefärbte Mist. Den Zorn über die ganze Ladung sechziger Jahre Spießerkacke, die einen dran gehindert hat, seine Kinder und seine Eltern richtig kennenzulernen, als Individuen zu schätzen – oder eben auch nicht zu schätzen. Und nicht einfach einem Bild, gerahmt und überm Sofa hängend, nachzueifern und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen.

Wenn ich das so lese, komm ich mir selbst doch wie ein ziemlich nervtötendes Exemplar vor. Was hindert mich dran, (jetzt hätte ich beinahe „dem armen alten Mann“ geschrieben- aber ein bisschen ist er das ja tatsächlich) dem ersten Mann in meinem Leben zuzugestehen, dass er immer sein Bestes getan hat, und dass nichts ihn befähigt hat, das Geschäft des Kindergroßziehens anders anzugehen?
Ihm waren immer die Dinge wichtig, die er in seiner Erfahrung als existenziell wichtig erlebt hat- Etwas zu Essen haben, wenn man Hunger hat. Ein Dach über dem Kopf, vorzugsweise eines, unter dem es warm ist. Kleidung, die warm, sauber und trocken ist. Die Gewissheit, nicht nachts von Fremden aus dem Bett gerissen zu werden und in einem verlöteten Viehwaggon ins Nichts transportiert zu werden. Keine Gewalt in keiner Form.
Wenn man sich überlegt, dass vor 65 Jahren diese Dinge in ganz Europa für kein Kind selbstverständlich waren, dann hat er sein Ziel für uns erreicht.
Für mehr ist vermutlich nie Energie übrig gewesen.


So betrachtet, hat er es richtig gemacht. So betrachtet, kann niemand mehr verlangen.
Ich glaube, ich will es gar nicht mehr anders betrachten, denn ich bin nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt das Recht dazu hätte.


Und nicht nur so betrachtet bin ich ziemlich froh, dass sich die Verdachtsdiagnose nicht bewahrheitet hat, sondern dass wiederum der niedrige Blutdruck nicht ausreicht, immer das Hirn mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Dem kann man aber wohl abhelfen und tut das auch.
Ab sofort werde ich nett sein zu dem alten Herrn, und nicht mehr so biestig, denn er hats verdient, finde ich.


Schönen Abend, ihr Lieben,
wünscht

6 Kommentare:

Kate hat gesagt…

Ist es nicht beruhigend, wenn der Hass sich legt und man auf einmal friedlich denkt "ich verzeihe dir, denn ich weiß, du hast es so gemacht wie du meintest, dass es richtig ist. Du hast es nie anders (kennen ge)lernt"
Ich kann deine Gedanken und Gefühle nachvollziehen! Ich weiß, dass es "klick" macht und man merkt, dass man den Elternteil plötzlich versteht und sogar eine gewisse Dankbarkeit entwickeln kann!
Du willst zwar nicht erwachsen werden, aber ich glaub, das ist ein Schritt in die Richtung (aber keine Sorge, das ist ja nur ein Teil, der Rest kann ja weiter Kind bleiben) ;-)

Bea hat gesagt…

Ein toller Beitrag!
Und wie sehr ich darin Menschen aus meinem eigenen Leben wieder erkenne, ist schon fast erschreckend. Ich habe ein sehr ambivalentes Verhältnis zu alten Menschen. Besonders zu nervigen alten Menschen, die (wohl zwangsläufig?) irgendwann wieder zu Kindern werden. (Ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll und hoffe, Du verstehst, was ich meine.) Ich wünsche mir, eines Tages auch an den Punkt zu kommen, diese Menschen mit anderen AUgen zu sehen.
Ein toller Beitrag und eine schöne Liebeserklärung an Deinen Vater.
:-)

Georg hat gesagt…

Ich habe auch so meine Kämpfe mit ihm gehabt.
Heute sehe ich auch die Gründe für seine Art die Dinge anzugehen.
Wenn der Vater in den Krieg muss und sich noch einmal zurückschleicht zur Familie, dem Sohn einen Laib Brot überreicht und sagt: Jetzt bist Du verantwortlich für die Familie" sich umdreht und nie wiederkommt. Das muss einen Menschen prägen. Das er noch mehr Geschwister hatte, habe ich auch erst nach seiner OP erfahren. Das hat mich umgehauen.
Seit dem kann ich ihm vieles verzeihen.
Auch wenn ich nicht alles verstehe...

Svenja-and-the-City hat gesagt…

Der Beitrag über deinen Pa hat mich heute morgen sofort zu Tränen gerührt und das kommt diesmal nicht davon, weil ich im November ohnehin so nah am Wasser stehe. Nein, das hast du so einfühlsam geschrieben, dass man deinen Zweispalt sehr gut nachempfinden kann.
Mein Pa ist 73 und ich besuche ihn demnächst für eine Woche in Brühl. Er ist furchtbar anstrengend, ein echter "Knie auf die Brust" Typ, aber ich freue mich, dass er noch da ist und sich gerne von seiner Tochter besuchen lässt.
Alles Liebe für deinen Pa aus der Ferne und für dich sowieso.
- Svenja -

Paula hat gesagt…

Wiem schön, dass Du ihm verzeihen kannst, solange er noch lebt. Das heißt ja nicht, dass Du ihm nicht widersprechen kannst, aber vielleicht schaffst Du das ja mit Humor und Witz.

Und das Phänomen, dass die alten jahrzehntelangen Erinnerungen wieder hochkommen, ist ja noch kein Zeichen von Verwirrheit.Irgendwann gehen halt die Schleusentore auf, gut so!

Gute Idee, seine Geschichte auf Band festzuhalten, das wird nciht leicht für ihn sein und solltet ihr in mehreren Portionen machen.

Anonym hat gesagt…
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