„Frau Braun, bitte!“
Die junge Frau an der Rezeption schaut mich nicht an, als sie mich aufruft. Sie kennt mich lange, so, wie man sich halt kennt. Sie hat mir Rezepte überreicht, mich angerufen, um Termine zu bestätigen oder abzusagen. Mir aus dem Mantel geholfen, mir Spritzen verabreicht. Sie ruft mich auf und schaut mich nicht an.
„Zimmer drei“, sagt sie, und deutet auf die weiße Tür mit der grauen 3 daran. Dabei sieht sie auf den Bildschirm und schiebt mit einer Hand die Karten und Zettel auf dem Tresen durcheinander, als mische sie Tarotkarten für das Keltische Kreuz.
Was liegt vor dir, welcher Einfluss stört?
Ich gehe zur Tür, öffne sie, schließe sie hinter mir und setze mich auf den Stuhl vor den Schreibtisch, Knie zusammengepresst, Rücken gerade. So, wie meine Mutter es erwarten würde. Von hier aus kann ich die Akte gut sehen. Sie ist umfänglich, acht oder neun Zentimeter dick, obenauf liegt ein Schreiben mit einem seriös aussehenden Briefkopf. Es ist der Befund aus dem Krankenhaus.
Das Zimmer ist schwach beleuchtet, und irgendein Sender schickt weichgespülte Klassik durch versteckte Lautsprecher. Die Farben hier sind grau, weiß und schwarz, das einzig bunte ist der blaue Schriftzug des Klinikschreibens. Und die rote Briefklammer. Sie heftet neue Details an alte, fügt den Erkältungen, den verstauchten Knöcheln, der Magenverstimmung und den Verdachtsdiagnosen eine Bestätigung hinzu.
So oder so: Eine Bestätigung.
Ich bin knapp über vierzig, meine weitsichtig werdenden Augen lassen sich von dem Rot und dem Blau einfangen. Leider kann ich nicht lesen, was unter dem Briefkopf geschrieben steht. Und selbst wenn: Ärzte-Suaheli verstehe ich nicht.
Also warte ich. Wende meinen Blick zum Fenster, zum bleichen, grau-weißen Himmel. Von hier aus sehe ich nur diesen Ausschnitt, weiß gerahmt. Kein Haus, keinen Baum. Vielleicht ist es kein Glas, sondern nur eine geschmackvoll den Raumfarben angepasste Scheibe, die jemand als Trompe-l'œuil eingefügt hat?
Nein, ein Flugzeug ist da auch, ein kleines. Mit Kondensstreifen. Vielleicht unterwegs nach Spanien, nach Neufundland? Nach London oder Dublin? Forty Shades of Green. Vermutlich aber nur nach Münster/Osnabrück. Das ist leicht zu ertragen.
Der schwarze Zeiger der grauen, flachen Uhr über der Tür ist ein bisschen weitergerückt, er gehorcht anderen Rhythmen als mein Herz.
Ich stelle es mir vor, nur um die Langeweile zu vertreiben, wie es da liegt: Dunkelrot, vibrierend und glänzend. Es würde gut zu der schwarzledernen Schreibtischunterlage passen.
Das Telefon schellt, ein melodisches, gedämpftes Rufzeichen, das akustische Pendant zu grau und weiß und schwarz. Es bricht ab, tief in den Eingeweiden der Praxis hat jemand abgehoben. Wo wohl das Herz der Räume hier schlägt? Und ist es auch dunkelrot, vibriert und glänzt? Oder ist es geschmackvoller? Anthrazitfarben? Taubengrau?
Warum hat sie mich nicht angeschaut?
Mein Hirn sortiert mögliche Gründe, ordnet sie, wählt aus, verwirft. Hat sie das Klinikschreiben gelesen? Kann sie es deuten? Zweimal ja, wahrscheinlich.
Weiter: Bin ich ihr sympathisch? Würde sie ihre Sympathie so ausdrücken? Durch Nicht-Anschauen? Wahrscheinlichkeit gegeben, aber gering. Eher würde sie vielleicht- ja, was? - mitleidig lächeln, ernst-verbindlich meinem Blick standhalten, voller Verständnis mich in das Sprechzimmer begleiten, meine Hand teilnahmsvoll drücken? Seifenoper.
War sie zu beschäftigt, um den Kopf zu heben und mir das übliche, ein wenig unpersönliche Lächeln zu schenken? Hat sie Sorgen, ein krankes Kind, einen untreuen Mann, hat geweint und verbirgt rote Augen vor den Blicken der Patienten, indem sie einfach nicht aufschaut? Hat sie schlecht geschlafen? Ist ihr Auto nicht über den TÜV gekommen? Hat die Strumpfhose ein Loch?
Meine Erinnerung weigert sich, ihr Verhalten gegenüber den anderen Wartenden in die Waagschale zu werfen. Den türkisch aussehenden älteren Herrn in Begleitung seiner Tochter. Die junge Frau in zerlöcherten Netzstrümpfen, die gummikauend auf einem Sessel lümmelt. Die seriöse Mittfünfzigerin in ihren stabilen und bequemen Schuhen. Hat sie die angeschaut? Hat sie ihre Kollegin angesehen, die mit Klemmbrett und flatternden EKG-Streifen ins Labor lief? Ich weiß es nicht.
Manchmal verhält sich Erinnerung wie ein kaputter Monitor: Bei frontaler Ansicht sieht man gar nichts. Man nimmt ein Unbehagen wahr. Es hilft, wenn man den Kopf zur Seite dreht, und am Bildschirm vorbeischaut. In den Augenwinkeln kann man dann das Flimmern sehen, wenn eins da ist.
Ich konzentriere mich also auf etwas anderes. Was hat sie getan? Telefoniert? Aus der hübschen Porzellantasse getrunken, die - immer mit einem blassen Tee darin - neben ihrem Mouse-Pad steht? Chamoisfarbenes Bone China, sehr teuer, zu teuer für eine junge Frau in Jeans und T-Shirt. Und für den Gebrauch bei der Arbeit. Vielleicht ist sie von einem Service übrig geblieben oder jemand hat sie ihr geschenkt. Ein dankbarer Patient.
Die Tasse ist schön, sie bricht die grauweißschwarze Strenge. Sonst zerbrechen immer die Tassen, wenn man sie mit etwas Hartem in Kontakt bringt. Das liegt daran, dass sie selbst so hart sind, dass sie splittern.
Menschen sind anders. Ihre Körper schlucken, was hart ist, schließen es in sich ein. Oft zu ihrem Schaden, manchmal zu ihrem Nutzen. Nur fällt mir im Moment kein Nutzen ein.
Ich weiß immer noch nicht, ob sie nun die Wartenden angeschaut hat oder nicht.
Sie ist mein Orakel, warum antwortet sie nicht? Wenn sie Tarot legt, dann wäre es nur fair, auch daraus zu lesen, und zwar laut, mich an ihrer Weisheit teilhaben, mich nicht verhungern zu lassen.
Die Uhr ist eingeweiht, verschworen, der schwarze Zeiger bewegt sich sehr langsam. Wenn ich nicht blinzle, kann ich es sehen.
Wieso dauert das so lang? Immer wieder Schritte auf dem Gang, immer wieder reagiert mein Körper. Eine Reaktion, auf die man sich verlassen kann. Prickelnde Kälte auf Armen und Rücken, rascher Herzschlag. Und dann, mit dem Verhallen der Schritte, dem Schließen einer anderen Tür, dem Geräusch der mit dem Stethoskop beladenen Kitteltasche, die an der Wand entlang wischt, stellt sich Ruhe ein, Erschöpfung.
Als wäre ich nicht schon müde genug.
Ich denke an Momente, in denen das, was ich sagen will, mir in der Kehle sitzt wie eine Gräte. Quer und spitz, und um nichts in der Welt dazu zu bringen, meinen Körper zu verlassen, zu Sprache zu werden, von der Emotion, die mich bewegt, zum Gefühl, das ich anderen mitteilen kann.
Wieder Schritte.
In meinen Ohren rauscht kein Meer. Was die Geigen stört, ist kein Paukenschlag. Sondern eine Hand auf der Türklinke, eine Begrüßung. Ein Schemen in kantigem Kittel. Weiß, natürlich. Gepflegte Hände, die nach dem Bogen mit dem Blau greifen, ihn umdrehen. Ich gebe mir Mühe, zuzuhören. Die Stimme sagt etwas, ich verstehe „Kleine Abweichung... Antibiotika... erneute Vorstellung... alles in Ordnung“, und nehme, wacklig aufstehend, einen Handschlag in Empfang.
Ich verlasse die Praxis. Sie hat mich nicht angesehen.
Ich frage mich, wieso.
Heißt sie Sibylle?
Dienstag, 8. September 2009
Delphi
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11 Kommentare:
Litterature, eindeutig! Klasse.
Wow. Musste erst einen Moment Pause machen nach dem Lesen. Danke.
Hui. Bin begeistert.
Habe einen Kloß im Hals.
Hut ab.
Danke
Wenn schwer erträgliche Rückenschmerzen einen Schreibreflex mit solchem Resultat auslösen, dann - weiß ich nicht so recht. Andererseits scheinen viele andere große Literaten auch viel gelitten zu haben.
Trotzdem wünsche ich Linderung, auch wenn das Verzicht auf einen Teil der Prosaproduktion bedeutet.
Wenn schwer erträgliche Rückenschmerzen einen Schreibreflex mit solchem Resultat auslösen, dann - weiß ich nicht so recht. Andererseits scheinen viele andere große Literaten auch viel gelitten zu haben.
Trotzdem wünsche ich Linderung, auch wenn das Verzicht auf einen Teil der Prosaproduktion bedeutet.
Erstmal ein Dankeschön an euch alle- freut mich, wenns gefällt. Ich muss aber sagen, dass das nichts Aktuelles war, sondern dass ich die Geschichte schon vor einigen Jahren geschrieben und nur recycelt habe- wenn ich mit Rückenschmerzen so einen langen Text verfassen könnte, hätte ich auch arbeiten gehen können:-)
Egal. Trotzdem umwerfend.
Mensch, Lily. Du hast das so spannend geschrieben, dass ich es nach wenigen Zeilen nicht mehr ausgehalten habe und mir erstmal das "alles ok" des Arztes holen mußte.
Danach hab ich es ganz entspannt noch einmal gelesen.
Sollst du uns denn so erschrecken?
Da hab ich nur meiner Hypochondrie und dem Verfolgungswahn mal freien Lauf gelassen :-)
Schon erstaunlich wie viel Angst einem diese Zeilen machen.
Die eigene Assoziation ist dabei ganz erstaunlich.
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