Samstag, 23. August 2008

Dumm gelaufen

Es war Dienstag Abend. Johannes-Emmanuel zog den Schlüssel aus der Tasche, schloss kurz die Augen und atmete tief ein und aus.
„Ich bin ganz ruhig. Wohlige Wärme durchzieht mich sanft. Ich bin ganz ruhig und gelassen“ murmelte er. „Es atmet mich. Ich bin ganz ruhig.“
Dann straffte er die Schultern, schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um.
„Hallo Mama, ich bin zuhause!“ Schon wieder dieses Krächzen. Sollte das ganze Sprachtraining überflüssig gewesen sein?
„Liebling, wie schön! Das Essen ist schon fertig! Komm nur, es gibt Eisbein!“
Johannes-Emmanuel fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Ausgerechnet Eisbein.
„Mama“, sagte er, mit Betonung auf der zweiten Silbe, denn darauf bestand sie, „Mama, du weißt doch...“
„Papperlapapp, Kind. Ein Mann braucht sein Fleisch. Dein lieber Papa hat darauf bestanden, dass täglich Fleisch auf den Tisch kam. Täglich! Dieser neumodische vegetarische Blödsinn! Er hielt nichts davon, dass ausgewachsene Männer nur Salat essen. Und du solltest dir wirklich ein Beispiel nehmen an deinem Papa...“
„Ja Mama, ich weiß. Aber-“
Wieder unterbrach sie ihn.
„Komm jetzt, sonst wird es nur kalt. Und das ist nicht bekömmlich. Dein lieber Papa...“
„Ich wasche mir nur eben die Hände, Mama“, fiel er ihr ins Wort, und drehte um in Richtung Bad, verriegelte die Tür hinter sich und lehnte einen Moment die Stirn gegen das kühle Holz.

Eisbein. Um Himmels Willen. Brechreiz stieg in ihm auf. Von allen Übelkeit erregenden Scheußlichkeiten ausgerechnet Eisbein.

Er drehte den Hahn auf und ließ Wasser über seine Handgelenke rinnen, fing es mit beiden Händen auf und wusch sich das Gesicht, betrachtete kritisch den Bartschatten, der sich schon wieder zeigte, und zupfte ein borstiges Nasenhaar aus. Da, ein Pickel!


„Johannes-Emmanuel! Das Essen wird kalt! Bitte komm zu Tisch!“
Seufzend gab er auf, schraubte den Hahn zu und verließ das Bad.


Im Esszimmer war es zu heiß. Wie immer. Der eichene Tisch litt unter Elefantiasis aller vier Beine, und der darauf ausgebreitete Läufer unter Räude. Das Geschirr passte zu Eisbein wie die Faust aufs Auge: Gebrochen weiß, mit verblichenem Goldgeschnörkel und gesprungener Glasur von fünfzig Jahren des Spülens.
„Bitte, mein Junge, lass nicht immer so lang das Wasser laufen. Du weißt doch, wie hoch die Preise sind. Muss ich dich denn immer an alles erinnern?“
„Ja, Mama...nein, Mama, musst du nicht...“
„...und sprich nicht immer mit vollem Mund!“
„Ja, Mama.“
„Und warum krächzt du so? Die teuren Stunden bei Professor Meyer-Liebligkeit! Das sollte sich doch längst gegeben haben? Was sagt er denn so? Brauchst du noch viele Stunden? Und wie war es heute im Büro?“
Er legte das Besteck hin.
„Mama. Ich bitte dich. Wenn du nicht willst, dass ich dir mit vollem Mund antworte, dann frage mich bitte nichts, wenn ich gerade esse. Die teuren Stunden bei Meyer-Liebligkeit zahlt die Krankenkasse. Wie viel Stunden ich noch brauchen werde, weiß ich nicht. Und im Büro war es ganz genau so wie immer.“
Er stocherte weiter in seinem Essen herum, sägte ziellos an dem riesigen Eisbein und versuchte, die Trümmer unter den schwarz verbrannten Zwiebelringen zu verstecken. Eisbein, halb roh. Erstarrtes Fett glibberte zwischen rosigen Schwarten. Weißliche Knöchelchen, Sehnen wie Gummibänder. Das Kartoffelpüree konnte problemlos mithalten. Rohe Klümpchen hatten allen Zerkleinerungsversuchen widerstanden, der Rest war wässrig und versalzen. Wie man in ein und demselben Topf einen Teil der Kartoffeln zerkochen und den anderen nicht einmal weich bekommen konnte, überstieg sein Fassungsvermögen.
„Warum isst du nichts, Kind? Fehlt dir etwas? Fühlst du dich nicht wohl? Soll ich den Arzt...“
„Mama. Mir fehlt nichts. Im Gegenteil, dieses Eisbein ist eindeutig zuviel. Und es ist noch nicht einmal gar! Ich kann das nicht essen, entschuldige.“ Er schob den Teller von sich.
„So eine Undankbarkeit! Das ist ja unerhört! Ich habe dich mehrmals gebeten, zu Tisch zu kommen, und jetzt beschwerst du dich darüber, dass das Essen kalt ist? Frau von Gander hat neulich noch bemerkt, du seiest ein außerordentlich erfreuliches Kind, so pünktlich, zuverlässig und sauber. Und immer höflich. Wie bin ich froh, dass sie nicht weiß, wie sehr sie sich geirrt hat. Dein lieber Papa...“
„Mama, ich bin dreiundvierzig - “
„Unterbrich mich nicht, wenn ich mit dir rede! Ich bin schließlich deine Mutter. Und das bleibe ich auch, ganz gleichgültig, wie alt du bist... Das Herz einer Mutter erlahmt nie! Ein bisschen Respekt sollte das Alter ja noch verdienen. Aber wahrscheinlich kann man das heutzutage nicht mehr erwarten. Zu meiner Zeit...“
„Mama, ich habe nicht gesagt, dass das Essen kalt ist...“
„...da schwiegen die Kinder, wenn die Älteren redeten, und das Wort einer Mutter war Gesetz, ja, Gesetz! Frau von Gander...“
„Mutter! Hör mir doch zu!“
„....so etwas brauche ich mir von einem hergelaufenen Rotzbengel nicht sagen zu lassen! Als ob ich dir jemals nicht zugehört hätte! Immer, immer hatte ich ein offenes Ohr für dich, all die ganzen Jahre! Seit dein lieber Papa nicht mehr unter uns weilt, habe ich mich stets um dich gekümmert, ganz allein! Und nun so etwas...Niemand hat mich jemals so beleidigt! Wenn ich nicht gewesen wäre, die dich unter Schmerzen geboren hat—Was tust du da? Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede, und verdreh die Augen nicht so! Leg sofort –sofort sag ich! - das Messer hin! JOHANNES-EMMANUEL!



3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Friedemann Schulz-von-Thun hätte seine helle Freude an den Beiden gehabt! ;-)
Mir ist jetzt schlecht, weil ich nur an EISBEIN denken kann...bah...

Meise hat gesagt…

Ein Alptraum! Wirklich - ein Alptraum!

Anonym hat gesagt…

Es fehlt noch die dramatische Konsequenz, der psychologische Höhepunkt des unvermeidlichen Dramas: Sohn ersticht Mutter mit Fleischgabel und ihr Kopf liegt mit offenen Augen über dem Teller mit den Eisbeinresten. Danach wählt er die Nummer des Sprachtherapeuten und sagt mit fester Stimme ohne Stottern den nächsten Termin ab.... oder so ..

Fiese Grüße mit diabolischem Grinsen

Paula