Samstag, 6. Oktober 2007

Meine Güte. Perfektionismus. Schon wieder.

Ich bin Diabetikerin, und das hat Auswirkungen auf mein Leben.
Es hat mich einige Zeit gekostet, mich damit abzufinden. Weniger mit der Krankheit, also mit der Tatsache, dass ich nicht mehr gesund bin. Mehr Mühe kostete und kostet es, das ganze Drumherum irgendwie auf die Reihe zu bekommen.
Man sollte glauben, dass ein halbwegs intelligenter Mensch mit einem Blick auf die Zukunft schon ziemlich fix in der Lage ist, sinnvoll damit umzugehen.
Es geht ja nur darum, regelmäßig Kontakt mit dem Messgerät zu halten und sich in vernünftigen Abständen mit seinen Werten zu versehen, und dann mithilfe des Insulins diese Werte in akzeptablem Rahmen zu halten.
Hört sich simpel an, ist es auch. Die Dosierung des Insulins ist im großen und ganzen eine Kombination aus Mathematik und Kenne-Deinen-Körper. Man stellt den aktuellen Blutzucker fest, berücksichtigt das, was man essen will, das, was in den nächsten zwei, drei Stunden an Bewegung auf einen zu kommen wird, und los gehts. In Zeiten unkalkulierbarerer Lebensführung, wenn man beispielsweise im Urlaub ist, auf andere Weise als sonst arbeitet, oder ungewohnte Dinge isst, deren Wirkung man noch nicht kennt, misst man seinen BZ noch mal zwei Stunden nach der letzten Mahlzeit, und korrigiert, entweder mit mehr Insulin, oder mit ein bisschen Traubenzucker. Das ist so einfach, dass muss sich ein wohlmeinendes höheres Wesen ausgedacht haben- dann kam aber leider ein Veto von irgendwem ("Hey, willst du es ihnen wirklich so einfach machen??") und irgendwer erfand a) die Basalrate und b) die Gegenreaktion und c) die Insulinresistenz. Und das Dawn-Phänomen.
Die Basalrate ist sozusagen das Standgas. Insulin braucht der Körper nämlich IMMER. Ob wir was essen, und ob das Kohlenhydrate enthält, oder nicht. Ob wir schlafen oder Bungee-Jumping machen oder was auch immer.
Die Basalrate legt der Doc fest, nach welchen Kriterien weiß ich nicht, und gibt einem dann dafür ein weiteres Insulin. Einige wirken 12 Stunden, andere angeblich 24, und deren ehrenvolle Aufgabe ist es, den Körper mit dem Insulin in Spuren zu versorgen, damit das Standgas auch vorhanden ist. Zu den Mahlzeiten kriegt man das kurzwirkende Insulin, heutzutage meist ein geheimnisvoll hergestelltes Insulinanalogon, irgendwie gentechnisch hergestellt.
Soweit, so gut.
Mit dem Standgas gibt es aber das Problem, dass der Körper eben kein industriell hergestelltes Ding ist. Sondern Handarbeit (naja), und daher zu Variationen neigt. Eine davon äußert sich im Dawn-Phänomen. Das ist eine Besonderheit, die zur Grundlage hat, dass der Insulinbedarf dieses individuell vorliegenden Körpers (vorliegend. Nicht optimal) in den Morgenstunden ansteigt. Rapide ansteigt, so ab 3, 4 Uhr morgens. Klar, darauf kann man reagieren, in dem man eine Zeitlang nachts jede Stunde den Blutzucker misst, rauskriegt, ab wann wieviel Insulin gebraucht wird, und sich ab sofort jede Nacht einen Wecker stellt unter Berücksichtigung des Wirkungseintritts, und sich dann die passende Dröhnung verpasst.
Suboptimal, zumindest für Menschen, die ungestörten Nachtschlaf brauchen, um morgens fit zu sein zur Arbeit. Denn ich würde kein Insulin spritzen, ohne vorher zu messen, und ein bisschen zu rechnen- und das macht WACH. Ein wenig kann man mit den Uhrzeiten spielen, zu denen man sich das Langzeit (Standgas-)Insulin gibt, aber nur begrenzt. Man kann die Dosis, die für 24 Stunden reichen soll, in mehrere Teilinjektionen mit kalkuliert sich überschneidenden Wirkmengen aufteilen.

Wenn nach diversen Runden mit diversen Insulinen verschiedener Hersteller mit verschiedenen Wirkungsdauern diesem blöden Phänomen kein Riegel vorgeschoben wurde, und man es wirklich leid ist, morgens mit dem Gefühl aufzuwachen, von einem Bus überfahren worden zu sein (Werte ab 300 haben auf mich diese Wirkung, normal wäre morgens 80-100), fühlt man sich mega-mies. Wie ein Versager. Weil es ja sein könnte, dass man was falsch macht.
Und dann hat man drei Probleme:

a) man fühlt sich wie ein Versager- weil ja eigentlich alles ganz einfach ist.
b) man fühlt sich beschissen und benebelt, kommt morgens nicht in die Gänge, und ist erstmal superschläfrig, bis der Blutzucker wieder im Normbereich ist.
c) als informierter Mensch weiß man, wie wirklich schädlich derart hohe Werte sind. Nicht in Bezug auf einen oder zwei Tage, sondern langfristig gesehen. Das ist wie beim Trinken: Ein Vollrausch wird von der Leber ungern, aber dennoch akzeptiert. Macht mans täglich, wird sie einem schon bald vorführen, was eine innere Kündigung ist. Nur ist es hier nicht nur die Leber; es sind die Nieren, die Augen, die kleinen Blutgefäße in Fingern, Zehen und rund ums Herz, die irgendwann nicht mehr mitspielen.

Mein Doc hat dann irgendwann die Reißleine gezogen, und mir angeboten, es mit einer Insulinpumpe zu versuchen. Die hat die Eigenschaft, dass man für jede halbe oder ganze Stunde ihr genau einprogrammieren kann, wieviel Insulin sie abgibt. Es gibt nur noch das schnellwirkende Zeug, und man trägt das Ding 24/7, 365 Tage in jedem der hoffentlich noch vielen Jahre, bis man dermaleinst samt Harfe auf der reservierten Wolke Platz nimmt.
Mit dem Pumpending simuliert man eine Bauchspeicheldrüse auf etwas elegantere Weise, weil man auf die unterschiedlichen Bedarfslagen des Körpers etwas individueller eingehen kann. Da die Wirkung von Insulin unter Bewegung oder Sport viel besser ist, kann man eine Pumpe so programmieren, dass sie einem weniger Insulin gibt, wenn man sich bewegt. (Das oben beschriebene Langzeitinsulin, das einmal im Körper ist, wirkt bei Sport auch besser- aber es ist da schon drin, und oft kann man nur zusätzlich essen, um eine ZU gute Wirkung und damit einen Unterzucker zu vermeiden).
Soweit, so gut, oder?
Nee, dann kommen andere Probleme. Mit leichtem Grusel sehen viele Leute uns Pumpenträger mit unserem piepsenden Anhang an- warum hat die ein Handy in der Tasche, und das immer? Was piepst, grunzt oder vibriert da? Warum hängt da so eine Leitung unterm T-Shirt raus? Das ist der Katheter, der in einer Nadel endet, die in meinem Bauch steckt. Stahl oder Teflon, das ist unterschiedlich, 90-Grad-Winkel oder schräg, das ist auch unterschiedlich.
Die Nadeln sind mit einem Pflaster befestigt, und viele Pflaster hinterlassen-Pflasterreste. Mit der üblichen Fettcreme sind die schlecht weg zu kriegen, denn dann klebt das nächste Pflaster mit Sicherheit nicht. Muss aber, weil wie krieg ich sonst die nächste Nadel zum Halten? Klar wechselt man die Einstichstelle von rechts-am-Bauch nach links-am-Bauch und so weiter, aber Fettcreme kriecht und verteilt sich gut. Über einen recht weiten Raum.
Pflasterrestentferner gibts auch. Aber davon krieg ich Pickel. Die jucken.
Also, man findet sich mit seinem Ersatzteil ab, wie mit einer nicht hübschen, aber sinnvollen Brille oder Einlagen, man befreundet sich mit Pflasterresten (das da links ist Heinz-Gregor. Hallo Heinz-Gregor, gehts dir gut?) und man befreundet sich mit den kleinen Knötchen unter der Haut, die von den Nadeln nach zwei Tagen (dann sind sie reif für die Tonne) hinterlassen werden.
An diesen Stellen ist die Haut etwas dunkler. Und -am wichtigsten!- dort ist eine Verhärtung, die Insulin nicht mehr kalkulierbar aufnimmt und verarbeitet. Dort bilden sich lokale Resistenzen. Die dafür sorgen, dass die ganze sündhaft teure Elektronik sich den Wolf pumpt, und die Zuckerwerte schießen trotzdem in den Himmel.
Dagegen spritzt man dann an, bis man den Verdacht hat, schon wieder eine Resistenz zu haben, dann wechselt man den Katheter und spritzt woanders. Oft klappt das, manchmal auch nicht. Manchmal so gut, dass der Blutzucker nach einem Höhenflug so richtig absackt. Das kann zu plötzlichen Krankenhausaufenthalten führen, mit so unangenehmen Dingen wie epileptischen Anfällen wegen des Zuckermangels im Gehirn.
Oder, das ist weniger dramatisch aber lästig ebenso, der Blutzucker taucht in den Keller, und der körpereigene Alarm sorgt für den Ausstoß von Reserven, die noch in der Leber liegen, und der Zucker steigt von allein, ohne dass man was essen müsste. Die daraus resultierenden zu hohen Werte sind kaum in den Griff zu kriegen.
Oft merkt man, wenn der Blutzucker absinkt, aber je öfter das passiert, desto weniger. Und wenn man nachts einen Unterzucker überschläft, wacht man morgens auf, nassgeschwitzt und mit rasenden Kopfschmerzen, die man auch mit 6 Paracetamol nicht mehr los wird. Zuckertechnisch ist der Tag dann gelaufen. Arbeitstechnisch auch, denn so richtig voll dabei bin ich dann nicht mehr.
Und dann ist wieder Doktor-Zeit, und man sitzt da, sein Tagebuch vor sich, und grübelt mit ihm zusammen, wie um alles in der Welt DIESE Werte zustande kommen, wo es doch so einfach ist, und man schon das Optimum an Therapie bekommt. Ist man wirklich so doof??
Und dann sagt der Doc: Sie wissen doch, dass Ihr Körper keine Maschine ist. Und dass alles mögliche reinspielt, vom Stresslevel über das Wetter (Tatsache. Bei schönem Wetter wirkt Insulin bei mir etwas besser) bis zum allgemeinen Gesundheitszustand. Nicht nur die Menge der Kohlenhydrate spielt eine Rolle, sondern auch, ob es Gummibärchen oder Vollkornnudeln waren, die Sie gegessen haben. Und mit welcher Sauce.

Aber tief in mir drin weiß ich dann, dass ich es besser können müsste. Mehr Sport, mehr Salat, noch mehr messen, was weiß ich. Und dann hab ich den ganzen Kram so gründlich auf, dass ich schreien könnte, ich will mein altes Leben zurück. Wo ich auch mal Gummibärchen essen konnte, ohne mir Gedanken machen zu müssen, wie ich die jetzt zu berechnen habe. Wo ich nicht laufend in Apotheken rumhänge, und dort ein Heidengeld vorstrecken muss, um mich mit dem Zubehör zu versehen. Ich kriegs von meiner privaten Krankenversicherung erstattet- aber das dauert. 300 Teststreifen, für ca. 4-6 Wochen, 180 €. 10 Katheter, reichen für drei Wochen, 135 €. Einmal Insulin für 10 Wochen, 127,- €. Eine neue Pumpe alle 4 Jahre, ca. 4000 €.

Soll ich mich damit trösten, dass ich keine guten Werte habe, aber mein Bestes gebe? Ist das ein Trost, dass das Beste nicht reicht, nicht perfekt ist, nicht zum gewünschten Ziel führt? Nach Jahren des Vertrautseins mit dem Diabetes muss ich sagen, am allerwenigsten hilft mir der Go-Go-Go-Ansatz, der bei der ersten Schulung im Vordergrund stand.
Der Ansatz: Nicht krank, sondern bedingt gesund- der macht mir was vor. Der baut die Therapie auf einer Lüge auf. Der ist zynisch und menschenverachtend, weil er die verständlichen Ängste und Unsicherheiten der neu Erkrankten damals als etwas nicht weiter bemerkenswertes einfach so abtat.
Ich könnte heute noch kotzen. Im hohen Bogen.
Ich habe eine Krankheit. Eine chronische, unheilbare Krankheit, die mich unter Umständen umbringt, auf nicht angenehme Weise. Die erfordert viele Gedanken, viel Aufwand, viel Geld. Die erfordert Rücksichtnahme auf mich selbst, Anpassung meines Lebens, das Setzen realistischer und erreichbarer Ziele. Die erfordert Auseinandersetzung mit dem erhöhten Auftreten nicht nur von potenziellen Organschäden, sondern auch damit, dass Diabetiker erheblich mehr als gesunde Menschen unter Depressionen leiden. Depressionen fördern nicht den rücksichtsvollen, einsichtgesteuerten Umgang mit sich selbst, sondern eher selbstzerstörerisches Verhalten, right? Man gebe mir dann bitte noch ein potenziell (bei Überdosierung) lebensgefährliches Medikament wie Insulin in die Hand, und bitte schön, da haben wir doch die optimalen Voraussetzungen für ein wirklich erfolgreiches und sorgenfreies Leben. Alles Mumpitz. Fuck, wie der Italiener sagt.
Twain hat mal gesagt, (sinngemäß und übersetzt): Motivation lässt uns etwas beginnen, Gewohnheit hält uns bei der Stange.
Ich muss also unterscheiden,
a) wie krieg ich mich motiviert und
b) wie automatisiere ich mein Verhalten so, dass auch dann, wenn ich nicht motiviert bin, die Dinge halbwegs geordnet ablaufen?
Denn eins der Hauptschwierigkeiten ist es für mich, das "Ist egal, was ich tu, es klappt sowieso so selten, dass ich mir besser nicht auch noch Mühe gebe" im Zaum zu halten.
Also, trotz möglicherweise nicht optimaler Werte dranzubleiben, an der Fehlersuche ebenso wie an der Feineinstellung der eigenen Reaktionen.
Und die Ziele runter zu regulieren. Von unrealistisch nach erreichbar.
Ich arbeite dran.

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