Dienstag, 27. November 2007

Der Trübsalbläser

Es war einmal ein Mann, der war beinahe so wie alle anderen Menschen. Der stand morgens auf, ging zur Arbeit und kehrte abends zurück. Er kochte das Essen und aß es, wusch die Wäsche, hing sie auf, bügelte und faltete sie und legte sie wieder in den Schrank. Er tankte sein Auto, fuhr ab und zu damit in die Waschstraße, ging sonntags spazieren und in den Ferien fuhr er an die See.
Anders als viele andere Menschen jedoch blies er Trübsal.
Es gibt keine Schule, an der man das lernen kann. Dazu braucht man Talent.
Es gibt kein Orchester, in dem man es spielt, wenn man es beherrscht.
Trübsal ist ein einsames Instrument und wird daher allein geblasen.
Und allein war der Mann, sehr allein.
Nicht, dass es ihn gestört hätte.
Manches Mal fragte er sich, ob er nicht etwas vermissen sollte, wenn er sonntags morgens allein aufwachte und später allein vor seiner Tasse Kaffee saß. Doch es fiel ihm nichts ein, was er vermisste, und für das er nicht hätte etwas aufgeben müssen.
Danach übte er ein bisschen Trübsal blasen und wurde immer besser darin.
Das Geräusch, das von Trübsal erzeugt wird, ist Stille. Und wenn der Mann blies, dann wurde es um ihn herum so still wie in einem schalltoten Raum, oder wie in der Wüste. Wenn kein Wind weht.
Je öfter der Mann blies, desto besser wurde er. Ja, er wurde bald so gut, dass nicht nur Stille einkehrte, wenn er sein Instrument ansetzte, sondern dass sogar negativer Lärm entstand.
Draußen konnten die Menschen lautstark feiern, doch in der Wohnung des Mannes herrschte Grabesruhe. Nebenan lachten ein paar Kinder so laut und lang, dass sich Nachbarn beschwerten. Er jedoch vernahm nichts, weil die Stille ihn so sehr betäubte.
Bald schon war der Mann so gut darin, Trübsal zu blasen, dass er es nachts im Schlaf konnte. Seine Träume wurden leiser und leiser, und mit dem Ton schwanden auch die Farben in der Nacht.

Eines Morgens wachte der Mann auf, und als er ins Badezimmer ging, stellte er fest, dass er sich nicht mehr gut im Spiegel betrachten konnte. Er selbst hatte etwas von seinen Farben verloren, und an seinen Rändern schimmerten die Fliesen durch ihn hindurch, wenn man genau hinsah.
„Schau an, schau an!“ sagte der Mann zu sich, duschte, zog sich an, und ging zur Arbeit.
Mit der Zeit gewöhnte er sich an die blasse Gestalt im Spiegel, und daran, dass seine Arbeitskollegen ihn immer seltener grüßten.

Es fiel ihm schwerer, abends mit dem Blasen aufzuhören, und stattdessen schlafen zu gehen, denn da war nichts mehr, auf das er sich hätte freuen können. Wer träumt schon gern in Grautönen?
Weil er wenig schlief, war er immer öfter müde, und schlief an seinem Schreibtisch ein. Und dann träumte er wieder, grau und still.
Eines Morgens bemerkte er, dass er die schwere, gläserne Eingangstür zu dem Gebäude, in dem sein Büro lag, nicht öffnen konnte. So sehr er auch zog, sie bewegte sich keinen Millimeter. Da zuckte er die Achseln und ging nach Hause, um weiter Trübsal zu blasen.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wow, der Schreibstil ist klasse, ist das von Dir? Wenn auch der Inhalt sehr traurig ist... Was also noch fehlt, ist ein Rezept, wie man die Trübsalblaserei abstellen kann.

Ich habe mich jetzt eine Zeitlang auf Deinem Blog umgeschaut, und es gefällt mir sehr gut. Deshalb wandert's auch zu meinen RSS-Abos ;-)

Was Dir auch gefallen könnte, ist das Blog von meiner Cousine, die schreibt unter rabenchaos.blogspot.com. Schau doch mal 'rein.

Und zu der Datenwolke habe ich einen Kommentar unter meinen geschrieben.

Viele Grüße aus KO!

Lily hat gesagt…

Da bedanke ich mich doch recht herzlich- das ist von mir. Auch für das Einspeisen in den Feed- da bist du bei mir auch :-)
Und bei deiner Cousine schau ich auch mal rein. Versprochen.
Und morgen gehts ans Wolken-Basteln :-)
Hm. Ist ja schon heute.
Na dann: Gute Nacht :-)

Lily